Tagungsbericht vom 4. Schlesien-Kolloquium am 29.-30.11.2019

Teilnehmer aus Deutschland, Polen, Frankreich und Österreich beim 4. Schlesien-Kolloquium

Junge und erfahrene Schlesien-Forscher trafen sich in Görlitz.

Das 4. Kolloquium für Nachwuchswissenschaftler*innen, eine Veranstaltung der Kulturreferate für Schlesien und Oberschlesien in Kooperation mit der Stiftung Kulturwerk Schlesien und dem Dokumentations- und Informationszentrum von Haus Schlesien, fand am 29.-30.11.2019 erstmalig im Schlesischen Museum zu Görlitz und traditionell schon unter dem Motto Schlesien/Śląsk/Slezsko – Grenzüberschreitende Forschung statt.

Am 4. Schlesien-Kolloquium haben nach kurzfristigen, krankheitsbedingten Absagen neun von den geplanten zwölf Teilnehmer*innen ihre Forschungsprojekte vorgestellt, deren gemeinsamer Nenner Schlesien war. Eingeteilt in vier Sektionen, moderiert von renommierten Wissenschaftler*innen und begleitet durch externe Gäste, konnten die Teilnehmer*innen der Tagung ihre Beiträge im Plenum diskutieren und so den intendierten interdisziplinären Austausch verwirklichen. Wieder zeugten die unterschiedlichen Themen mit Schlesienbezug von einem breit gefächerten Spektrum der Interessen und Forschungsansätze der Nachwuchswissenschaftler*innen.

Teilnehmer*innen und ihre Themen:

  • Sektion I, Moderation Dr. Ulrich Schmilewski
  1. Norbert Waclawczyk, Regionalforscher, Initiative Moreantiqua, Strzelce Opolskie, Forschungsprojekt: Die Wiedergeburt des Gottesbildes Tyr als Nachbildung von aus dem Zisterzienserkloster Himmelwitz in Oberschlesien stammenden Artefakten.
  2. Alicja Mainusch, Uni Opole, Dissertationsprojekt: Biographien und Aktivitäten von Parlamentariern der deutschen Minderheit in Schlesien.
  3. Dr. Matthäus Wehowski, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, TU Dresden
    Forschungsprojekt: Globale Konzepte – Regionale Deutung: Die Begriffe der Demokratisierung und nationalen Selbstbestimmung in Oberschlesien und dem Teschener Schlesien.
  • Sektion II, Moderation Prof. Dr. Wojciech Kunicki
  1. Dr. Juliana Redlich, Uni Wrocław, Forschungsprojekt: Literaturhistoriker, Breslauer Universitätsprofessor, jüdischer Konvertit. Gottschalk Eduard Guhrauer (1809-1854).
  2. Dr. Rafał Biskup, Uni Wrocław, Forschungsprojekt: Der schlesische Dialekt in der regionalen Literatur und Publizistik 1830-1945. Medialisierung und Identität.
  • Sektion III, Moderation Dr. Gregor Ploch
  1. Tomasz Sielicki, Uni Wrocław, Dissertationsprojekt: Die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs in Breslau in den Jahren 1893-1945.
  2. Michalina Cieslicki, LMU München, Dissertationsprojekt: Der Kunsttransfer und die Künstlermigration von Breslau nach Dresden im 16. Jahrhundert.
  • Sektion IV, Moderation Prof. Dr. Ellinor Forster
  1. Dr. Frederic Stroh, Uni Strasbourg, Forschungsprojekt: Homosexualität unter deutscher Besatzung 1939-1945. Transnationale Geschichte der Strafverfolgung und der Lebenswelten der männlichen Homosexuellen in den vom Dritten Reich annektierten Gebieten.
  2. Dr. Teresa Willenborg, Uni Hannover, Buchvorstellung (Diss.): Fremd in der Heimat. Deutsche im Nachkriegspolen 1945-1958.

Inhaltliche Zusammenfassung:

Anschließend moderierte Prof. Dr. Ellinor Forster die Abschlussdiskussion und lieferte die inhaltliche Zusammenfassung des Kolloquiums. Eine solche Synthese lieferte sie bereits in Haus Schlesien am Ende des 3. Schlesien-Kolloquiums 2018, so dass sie sich 2019 auf die Erfahrungswerte des letzten Durchlaufs beziehen kann. Während sie 2018 in ihrer Zusammenfassung den Blick darauf gerichtet hatte, welche Themen behandelt wurden, gekoppelt mit ihrer chronologischen Abfolge und der Tatsache, aus welchen Ländern die Beitragenden kamen, hat sie für 2019 ein anderes Vergleichsinstrument gewählt und zwar den Blick auf die Bevölkerung, auf die Gesellschaft in Schlesien gerichtet, was wir durch die Forschungen über sie erfahren haben bzw. wer/welche Gruppen und damit auch welche Orte/Schauplätze erforscht wurden.

Nicht überraschenderweise haben wir (Tagungsteilnehmer*innen) uns oft in der Hauptstadt Breslau/Wrocław aufgehalten – hier war die Bevölkerung sehr dicht, es gab in Ansammlung die üblichen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen: von Adeligen über die Hauptgruppe der Bürger zu den städtischen Armenschichten – als erste grobe Einteilung. In seiner Präsentation über den öffentlichen Verkehr in Breslau in den Jahren 1893 bis 1945 ging Tomasz Sielicki genau auch darauf ein – wer konnte diesen öffentlichen Verkehr nutzen, glich er die Bevölkerung einander an? Immerhin gab es hier keine unterschiedlichen Klassen/Sitzbereiche wie anderswo.

Geht es um konkrete Personen oder Personengruppen, wird die Klassifizierung differenzierter. So standen die Künstler und ihre Kunst bzw. der Kunsttransfer von Breslau nach Dresden im 16. Jahrhundert im Fokus von Michalina Cieslickis Beitrag. Juliana Redlich ging der Frage nach, wie der Literaturhistoriker, Universitätsprofessor und jüdische Konvertit Gottschalk Eduard Guhrauer in seinem philosophischen Tagebuch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über seine Einstellung zum Jüdischen schrieb, wie er sich selbst definierte.

Auch die verschiedenen Schriftsteller – im Beitrag von Rafał Biskup – die im 19. Jahrhundert begannen, in einem – konstruierten – schlesischen Dialekt zu schreiben, saßen vor allem in Breslau. Sie schrieben auch nicht für die Bevölkerung, die ihre Dialekte selbstverständlich verwendete, sondern für Schlesier außerhalb der Gebiete, in denen sie aufgewachsen waren – auch in der Stadt, wo sich die Dialekte abflachten. Dialekt wurde damit also auch als Erinnerungsort verstanden, zwar herkommend von der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten – jedoch mit der Frage, für wen?

Noch einen anderen Zugriff auf Personengruppen unternahm Frédéric Stroh – mit der Überlegung, wie die NS-Ideologie bei der Strafverfolgung von Homosexuellen auf die annektierten Gebiete – mit dem Fokus auf das polnische Oberschlesien – übertragen wurde. Hier kamen genaue Differenzierungen zu Tage – in typischem NS-Denken wurde genau unterschieden, ob Polen oder Deutsche homosexuellen Verkehr hatten und in das Rassendenken eingeordnet.

Neben Breslau scheint Oberschlesien immer ein Hotspot der Forschung zu sein: Bereits letztes Jahr mit dem Schwerpunkt Arbeitermigration ins Ruhrgebiet, Bergwerksleute und ihre Dichtung etc. – aber auch in Bezug zur besonderen politischen Situation, denn hier verflocht sich nach dem Ersten Weltkrieg die Geschichte Polens, des Deutschen Reichs sowie Österreichs – wie Matthäus Wehowski anhand der Demokratisierungs- und Nationalisierungsvorstellungen der lokalen Bevölkerung (in Bezug zu Konzepten, die von außerhalb kamen) zeigte. Die Menschen, die hier entgegentraten, waren vor allem jene, die sich in Vereinen politisch organisierten. Die Forderungen und Programme, die sie forderten bzw. aufstellten, bezogen sich hingegen auf alle Bevölkerungsgruppen – z.B. Wahlrecht auch für Frauen.

Ähnlich politisch exponierte Personen – die Parlamentarier der deutschen Minderheit nach 1991 – untersucht Alicja Mainusch. Sie saßen im Sejm in Warschau – und kamen vorwiegend aus Oberschlesien, aus den Städten Oppeln und Ratibor. Aus verschiedenen – noch nicht ganz erforschten Ursachen, nahm ihre Zahl (wie der deutschen Minderheit generell) mit der Zeit immer mehr ab. Die Überlegungen gehen dahin, dass das Bekenntnis zur deutschen Minderheit nach einiger Zeit nicht mehr so brisant war und dass die Verminderung auch staatlich gesteuert war, etwa durch eine Teilung der Bezirke.

Nimmt man diesen Vortrag mit jenem von Teresa Willenborg über den Umgang mit den nach 1945 in Polen gebliebenen Deutschen zusammen, drängt sich unweigerlich der Gedanke auf, ob und inwieweit diese Parlamentarier die Kinder der von ihr präsentierten Gruppe darstellten. Ob man also durch diese Schilderung – der Beziehung zur deutschen Kultur, … – einen Blick in die Kinderstube dieser Politiker bekam? Würde es also vielleicht auch Sinn machen, sich nicht nur die politische Biografie, sondern auch die genaue Herkunft anzuschauen, aber das wird ja vielleicht gemacht bzw. lässt sich im Einzelfall vielleicht nichts Genaueres recherchieren. Oder sind ihre Geschichten ohnehin alle gleich?

Ebenfalls nach Oberschlesien führte uns Norbert Waclawczyk ganz am Beginn: nach Himmelwitz in das Zisterzienserkloster, im Oppelner Land – aber eigentlich nicht zu den Zisterziensern selbst, sondern zu einem Exponat des Kriegsgottes Týr, das dort gefunden und nach seiner Zerstörung 1945 nun als Replik wiederhergestellt wurde. Die Fragen, die er aufgeworfen und angeregt hat, waren, ob es sinnvoll sei, ein verlorenes Exponat wiederherzustellen – wenn das Interesse der Bevölkerung groß ist, es in einem Heimatmuseum auszustellen. Die Diskussion drehte sich vor allem um die Frage, ob damit die Zuordnung zum Germanischen oder Slawischen wieder befeuert wird. Dahinter steht aber auch Faktum, dass sich offensichtlich die neue schlesische Bevölkerung nach 1945 nun mit dem „neuen“ Raum zu identifizieren beginnt.

Damit wird auch ein den Präsentationen gemeinsames übergreifendes Merkmal deutlich – Identifikation, etwa die Zuordnung zu Sprache, politischer Gruppierung, Konfession/Religion, aber auch Sexualität. Sehr klar zutage traten in allen Vorträgen auch – wie schon im letzten Jahr – die Verflechtungen nach außen mit den jeweiligen Räumen. Es handelt sich bei schlesischer Geschichte also keineswegs um eine Forschung zu einem abgeschlossenen Raum, sondern im Gegenteil – durch die bewegte Geschichte ist dieser Raum aufs Engste mit dem übrigen Europa verknüpft.

Tagungsbericht von Agnieszka Bormann
Inhaltliche Zusammenfassung von Ellinor Forster

Teilnehmer*innen des 4. Schlesien-Kolloquiums im Nordhof des Schlesischen Museums zu Görlitz,
Fot. SMG