Europas kurioseste Grenze

Nach der Teilung Oberschlesiens 1922 entstand eine neue deutsch-polnische Grenze

In der Zwischenkriegszeit gehörte sie zu den kuriosesten und somit auch zu den interessantesten in ganz Europa.

Mit der Übernahme des östlichen Oberschlesien durch die polnische Verwaltung im Juni und Juli 1922 entstand eine Grenze, die in der Zwischenkriegszeit zu den kuriosesten und somit auch zu den interessantesten in ganz Europa gehörte.

Als ein halbes Jahr zuvor die ersten Karten mit dem vom Botschafterrat des alliierten Siegermächte festgelegten Grenzverlauf veröffentlicht wurden, der die bis dahin deutsche Region aufteilte, fassten sich viele Einwohner Beuthens (Bytom) sicherlich an den Kopf. Ihre Stadt sollte von nun an eine von drei Seiten vom polnischen Staatsgebiet umgebene deutsche Halbinsel sein. Ähnlich erging es damals vielen Menschen in Oberschlesien, weil der Grenzverlauf an vielen Stellen – um es milde auszudrücken – phantasievoll ausfiel.

Das Ende des polnischen Keils am Bahnübergang in Gurek. Quelle: Heinz Rogmann, Schlesiens Ostgrenze im Bild. Schlesische Digitale Bibliothek / Śląska Biblioteka Cyfrowa

Eine äußerst ungewöhnliche Form hatte die Staatsgrenze zum Beispiel in Gurek (Górki Śląskie) im Landkreis Ratibor (Racibórz). Mitten durch den deutschverbliebenen Ort führte nämlich eine Bahnlinie, die auf einer Länge von etwa einem Kilometer zu Polen gehörte. Die Gleise bildeten somit einen polnischen Keil, der sich ins deutsche Gebiet schob. Dank dieses Grenzverlaufs konnten Züge im Bereich des nahegelegenen polnischen Grenzbahnhofs Summin (Sumina) rangieren, ohne das Reichsgebiet befahren zu müssen. Da die neue Grenze im Wesentlichen auf den bestehenden Gemeindegrenzen basierte, lagen Larischhof (Laryszów) bei Tarnowitz (Tarnowskie Góry) und die zu diesem Ort gehörige Schule anfangs in zwei verschiedenen Staaten. Denn wie sich herausstellte, gehörte das Grundstück, auf dem sich die Schule befand, offiziell zur polnischgewordenen Gemeinde Rybna (Rybna). Nach einigen Wochen wurde der Grenzverlauf in diesem Abschnitt so korrigiert, dass das Gelände, auf dem die Schule stand, wieder an Deutschland angeschlossen wurde. Die Grenze umgab nun das Gebäude von drei Seiten.

Staatsgrenze am Zaun der Delbrückschächte. Quelle: Heinz Rogmann, Schlesiens Ostgrenze im Bild. Schlesische Digitale Bibliothek / Śląska Biblioteka Cyfrowa

Als ultimative Sehenswürdigkeit hätte man zudem das südlich von Zabrze (1915-1945 Hindenburg) gelegene Bergwerk „Delbrückschächte“ (später „Makoszowy“) bezeichnen können. Dort verlief nämlich die neue Grenze teilweise entlang der Werkmauer und das Haupttor dieser modernen Industrieanlage diente bis September 1939 als Grenzübergang. Der nur etwa 100 Meter entfernte Bahnhof und eine kleine Bergarbeitersiedlung gehörten seit der Teilung zu Polen.

Die kuriose Grenzziehung bei Nieborowitzer Hammer (Kuźnia Nieborowska) im Landkreis Gleiwitz (Gliwice) war wiederum das Ergebnis einer Korrektur im Jahr 1923. Auf Bemühen des lokalen Großgrundbesitzers Curt von Friedrich-Schroeter wurde der Ort nach einjähriger Zugehörigkeit zu Polen im Wege eines Gebietsaustausches wieder an Deutschland angeschlossen. Die verschobene Grenze umkreiste Nieborowitzer Hammer, so dass das Dorf einen kantigen Zipfel bildete. Da sie teilweise entlang der Straßen verlief, befanden sich einige Gebäude und Bauernhöfe, die direkt an einer deutschen Straße lagen, offiziell auf polnischem Staatsgebiet. Ein Bauernhof wurde sogar von der Grenze zerschnitten.

Skizze eines durch die Staatsgrenze zerschnittenen Bauernhofes in Nieborowitzer Hammer. Quelle: Heinz Rogmann, Schlesiens Ostgrenze im Bild. Schlesische Digitale Bibliothek / Śląska Biblioteka Cyfrowa
Nieborowitzer Hammer, polnischer Bauernhof an einem zu Deutschland gehörenden Weg. Quelle: Heinz Rogmann, Schlesiens Ostgrenze im Bild. Schlesische Digitale Bibliothek / Śląska Biblioteka Cyfrowa

Außer Oberschlesien gab es in der Zwischenkriegszeit keine zweite Region in Europa, in der die Grenzziehung so kompliziert, aber auch so spannend war, und in der man die Grenze beispielsweise unter Tage passieren konnte. Als eine Art Attraktion für Einheimische und Besucher galten die Fahrten mit Transitzügen und -straßenbahnen. Seit Sommer 1922 verliefen einige Linien, die von Deutschland nach Deutschland oder von Polen nach Polen führten, über das Gebiet des Nachbarstaates. Um den Reisenden zeitraubende Zollkontrollen zu ersparen, wurde auf ausgewählten Abschnitten ein privilegierter Durchgangsverkehr eingeführt.

In der nach dem Ersten Weltkrieg festgelegten Form existierte die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien bis zum deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen im September 1939.

Text: Dawid Smolorz