Interaktive Karte zur Volksabstimmung in Oberschlesien

Die digitale Karte des Abstimmungsgebietes bietet sehr detaillierte Informationen zum Abstimmungsergebnis

Ein Gastbeitrag von Adam Brzoska, dem Autor des Projektes.

Adam Brzoska, der Autor der interaktiven Karte zur Volksabstimmung in Oberschlesien 1921, erzählt von seinen persönlichen Beweggründen für die Arbeit und erläutert gekonnt die Problematik thematischer Kartendarstellungen:

Ganz gewiss lässt sich die Frage, warum ich mich an die Erstellung einer digitalen Karte der Ergebnisse der Volksabstimmung in Oberschlesien vor 100 Jahren gemacht habe, mit dem Verweis auf mein allgemeines Interesse an der Geschichte und Kultur der Region, in der ich aufgewachsen bin und die ich vor zehn Jahren verlassen habe, erklären. Die Auseinandersetzung mit der Thematik bedeutet aber auch immer die Beschäftigung mit der eigenen Identität – es ist die Frage nach sich selbst; danach, wer man ist und wohin man gehört. Die Beantwortung dieser Frage wurde in meinen Fall zum Teil erschwert durch eine Diskrepanz zwischen den Geschichten, die ich einerseits von der familiären, privaten Umgebung gehört habe, und mit den Geschichten, mit welchen ich andererseits im öffentlichen Raum konfrontiert wurde. Das Private war von der oberschlesischen Sprache und Kultur beherrscht mit teilweise deutschen Elementen. Das Öffentliche war polnisch-national.

Auf der einen Seite gab es eine oberschlesische Familie mit den Geschichten meines Großvaters über das Leben bei uns auf dem Dorf vor dem Zweiten Weltkrieg. Es gab Familienangehörige, die schon Anfang der 1980er oder Mitte der 1990er Jahre nach Deutschland ausgewandert sind. Nach 1989 gab es dann wieder in den Kirchen Messen in deutscher Sprache und Deutschunterricht in den Schulen. Und mein Patenonkel, der damals auch in Westen lebte, hat uns eine Satellitenschüssel mitgebracht, mit der wir deutsches Fernsehen schauen konnten. Ich denke, dass ich es dieser Tatsache verdanke, dass ich die deutsche Sprache einigermaßen gut beherrsche. Die Muttersprache meiner Großeltern, meiner Eltern und meine war und ist der oberschlesische Dialekt.

Auf der anderen Seite gab es den öffentlichen Raum, der von der polnischen Sprache und polnischen Kultur dominiert wurde. Gerade die Schule war ein Ort, an dem eine polnische patriotische Sicht der Dinge vermittelt wurde. Dabei wurde auch eine Interpretation dessen vermittelt, wer die Oberschlesier eigentlich seien: Polen, die innerhalb von Jahrhunderten germanisiert wurden. Somit wurde die Geschichte meiner Heimat und damit auch unsere Identität sehr vereinfacht dargestellt – immer mit einen ewig deutsch-polnischen Konflikt im Hintergrund. So sei Schlesien seit dem Mittelalter polnisch und von der polnischen Dynastie der Piasten regiert worden. Dann gab es aber im Geschichtsunterricht über Schlesien eine jahrhundertelange Lücke bis zum Kulturkampf, der Geburt der national-polnischen Bewegung in Oberschlesien und den Aufständen nach dem Ersten Weltkrieg. Ich kann mich noch heute daran erinnern, als unsere Geschichtslehrerin uns von der Volksabstimmung berichtet hat. In ihrer Darstellung war die Volksabstimmung eine deutsche Manipulation, weil aus dem Reich Personen mit Sonderzügen zur Wahl gekommen seien, um für Deutschland ihre Stimmen abzugeben. Die Tatsache, dass es eigentlich Oberschlesier waren und dass deren Teilnahme eine Idee der polnischen Seite war, haben wir damals nicht erfahren. Das habe ich erst vor wenigen Jahren in dem Buch „Carl Ulitzka (1873–1953): Oberschlesien zwischen den Weltkriegen“ von Guido Hitze gelesen.

Es gab also zwei Narrative, die sich widersprachen. Was aber das Ganze wirklich schwer gemacht hat, war die Tatsache, dass es dabei nicht nur um die Darstellung bestimmter historischer Ereignisse ging, sondern gerade um die Darstellung der oberschlesischen Identität und damit auch meiner Identität. Als Jugendlicher fühlte ich mich mit diesem Problem, aus diesen zwei Welten eine zu schmieden, alleingelassen – sowohl im privaten als auch öffentlichen Bereich. Bei uns zu Hause hat man keinen August Scholtis oder Horst Bienek gelesen; in der Schule wusste auch keiner, wer z. B. Stanislaw Bieniasz war; es gab keinen intellektuellen Bereich, in den man sich mit diesen Themen auseinandersetzen konnte. So begann ich mir selbst aus diesen zwei Perspektiven eine zu bauen. Dabei war für mich offensichtlich, dass beide Seiten teilweise recht hatten, aber gleichzeitig auch irrten.

Innerhalb dieses langen Weges meiner persönlichen Suche nach Antworten, bin ich immer wieder auf die vier Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gestoßen – dieser für die Geschichte Oberschlesiens so entscheidenden Zeit. Auf der einer Seite hatte damals über eine Million der Oberschlesier, auch meine Vorfahren, die Möglichkeit gehabt, sich selbst zu äußern, in welchem Land sie leben möchten: in Deutschland oder in Polen. Innerhalb dieser wenigen Jahre gab es aber noch viel mehr als nur die Volksabstimmung: Es gab die polnischen (schlesischen) Aufstände, es gab viel internationale Politik, viel Propaganda, viel Hass auf beiden Seiten. Die Oberschlesier sollten sich eindeutig äußern – Polen oder Deutschland. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass dies eine Frage war, die wir Oberschlesier uns nicht selbst stellten und auch heute nicht stellen. Aber die uns von anderen gestellt wird, damit wir ein Bekenntnis für die eine oder andere Seite aussprechen. Auch an dieser Stelle bin ich der Meinung, dass dieser Identitätszwang nur ein Ausdruck von zwei Perspektiven ist, die im Konflikt zueinanderstehen. Und für mich ist es offensichtlich, dass die Wahrheit sich irgendwo dazwischen befindet.

Mit der Internetseite und der interaktiven Karte wollte ich meine Art der Zusammenführung dieser zwei Teile unserer oberschlesischen Identität ausdrücken. Was mich zusätzlich dazu bewegt hat, war die Tatsache, dass die meisten Karten mit Ergebnissen der Volksabstimmung aus 1921 eine nationalistische Interpretation sind und damit nicht den wirklichen Charakter der Region wiedergeben. Schauen wir uns beispielsweise diese zwei Karten an:

Auf diesen Karten wurde Abstimmungsgebiet Oberschlesiens nach der Regel aufgeteilt, wenn die Mehrheit der Menschen im jeweiligen Ort für Polen gestimmt hat, wird der Ort mit der anliegenden Umgebung rot markiert. Wenn die Mehrheit der Menschen für Deutschland gestimmt hat, dann wird er blau markiert. Auf der rechten Karte werden nicht nur die Bereiche farbig markiert, wie auf der ersten, aber zusätzlich wird jede Ortschaft, die Teil des Abstimmungsgebietes war, als ein Punkt markiert. Obwohl das ganze innerhalb von bestimmten Regeln korrekt dargestellt wird, haben diese Karten in gewissem Sinne einen manipulativen Charakter, weil hier zwei wichtige Aspekte nicht berücksichtig werden:

Erstens wird die Bevölkerungsdichte hier nicht beachtet. Auf diesen Karten sieht man keinen Unterschied zwischen einer Ortschaft, in der nur 100 Menschen gewohnt haben, und einer mit 10.000 Einwohnern. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, ob wir es im Einzelfall mit einem kleinen Dorf zu tun haben oder mit einer Stadt.

Hier ein Beispiel, um das Problem konkret zu zeigen:

Oben haben wir einen Ausschnitt aus einer der offiziellen Karte. In der oberen Hälfte ist Kattowitz zu erkennen. In Kattowitz gab es insgesamt 26.715 Stimmberechtigte, wovon 85% für Deutschland stimmten. Aus diesem Grunde ist dieser Ort als ein blauer Punkt markiert. In der unteren Hälfte sieht man die Ortschaft Wessola. In dieser gab es 452 Stimmberechtigte, wovon 97% für Polen stimmten. Dementsprechend ist die Ortschaft als roter Punkt markiert. Die Manipulation besteht daran, dass diese Ortschaften in beiden Fällen als gleichgroße Punkte dargestellt werden. Die Anzahl der Stimmen spielt hier überhaupt keine Rolle. Möchte man aber die Bevölkerungsdichte berücksichtigen, müsste der Punkt, mit dem Kattowitz dargestellt wird, mehr als 50-mal größer sein als der für Wessola. Das würde dann so aussehen:

Auf dem oberen Bild werden die Ortschaften als Kreise dargestellt, wobei diesmal die Fläche proportional ist zu der Anzahl der Stimmberechtigten im Ort. Damit ist es möglich, die Anzahl der abgegebenen Stimmen zu visualisieren, und nicht nur „wer gewonnen hat“.

Der zweite Aspekt auf den Karten, die nach der Volksabstimmung erstellt wurden und auch heute im Internet kursieren, der nicht berücksichtigt wird, ist die fehlende Unterscheidung dessen, in welcher Proportion zueinander die Stimmen für Polen und Deutschland standen. Ob in einem Ort 99% der Stimmberechtigten für Polen/Deutschland ihre Stimme abgegeben haben oder 51% erkennt man nicht. Hier möchte ich wieder anhand einiger Beispiele zeigen, worum es genau geht. Dazu betrachten wir die folgenden vier Ortschaften:

  1. Janow / Janów – Kreis Kattowitz
  2. Paulsdorf / Pawłow – Kreis Hindenburg
  3. Markowitz / Markowice – Kreis Ratibor
  4. Bauerwitz / Baborow – Kreis Leobschütz

In Janow haben 80,9% ihre Stimmen für Polen abgegeben. In Paulsdorf 50,9% für Polen, in Markowitz 50,2% für Deutschland und in Bauerwitz 99,8% für Deutschland. Unten sehen wir eine Visualisierung der Aufteilung der Stimmen für jede dieser Ortschaften und gleichzeitig eine Zuordnung innerhalb der dualen Logik: polnisch oder deutsch (rot oder blau).

Weil bei Bauerwitz und Markowitz mehr als 50% der Stimmen auf Deutschland entfielen, werden diese Ortschaften als blaue Punkte markiert. Bei Paulsdorf und Janow waren es mehr als 50% für Polen – deswegen rote Punkte. Das, was bei dieser Zuordnung stört, ist die Tatsache, dass die unterschiedlichen Konzentrationen der Stimmen hier nicht wiedergegeben werden. Zwischen den Stimmen in Bauerwitz und Markowitz gibt es einen Unterschied von über 49% – trotzdem sind beide Punkte blau. Dabei ist der Unterschied zwischen Markowitz und Paulsdorf minimal, und trotzdem werden sie unterschiedlichen Farben zugeordnet. Man könnte natürlich sagen, dass diese Zuordnung nach bestimmten Regeln durchgeführt wird, und irgendwo musste man ja die Grenze ziehen, damit die Ortschaften einer der Seiten zugeordnet werden. Das stimmt, trotzdem kann man es besser machen – und zwar so, dass die unterschiedlichen Stufen der Stimmenkonzentrationen erkennbar werden, gleichzeitig aber die Grenze sichtbar bleibt. Dies kann dadurch erreicht werden, dass man die Ergebnisse nach den folgenden Regeln klassifiziert:

Hier haben wir zwölf statt nur zwei Farben, auf welche der Bereich von 0 bis 100% aufgeteilt wurde. Somit verlassen wir den Raum der dualen Logik „entweder deutsch oder polnisch“ und können viel besser den Zwischenraum visualisieren. Zugleich ist es immer noch möglich, problemlos zu erkennen, ob in einer bestimmten Ortschaft eine Mehrheit für Polen oder Deutschland bestand. Bei den „warmen“ Farben (rot, orange, gelb) war die Mehrheit für Polen – bei den “kalten“ (blau und grün) für Deutschland. Mit diesen Regeln würde die Zuordnung von unseren vier Beispiel Ortschaften so aussehen:

Diese zwei Aspekte (Bevölkerungsdichte und Stimmenkonzentration) wurden auf https://silesia-plebiscite.netlify.app berücksichtig. Zusätzlich lassen sich die Ergebnisse sehr angenehm filtern z. B. nach Kreisen oder katholischen Diözesen. Es ist auch möglich, die Ergebnisse zusammenzuführen (aggregieren) auf der Ebene von Kreisen oder der ganzen Region. Es wurden auch einige Diagramme hinzugefügt, die die Ergebnisse für die ausgewählten Filter darstellen. Neben den Ergebnissen der Volksabstimmung aus den Jahr 1921, wurden auch die Ergebnisse der Volkszählung aus dem Jahr 1910 digitalisiert.

Es reicht, ein paar Analysen auf der Seite durchzuführen, um schnell zu erkennen, dass die Abgabe der Stimmen für Polen oder Deutschland nur teilweise mit der Sprache der Bevölkerung korrelierte. Als Beispiel können hier die Kreise Rosenberg (Olesno) und Pless (Pszczyna) dienen. Im erstgenannten Kreis sprachen über 80% der Bevölkerung Oberschlesisch bzw. Polnisch, im zweitgenannten etwas mehr als 85%. Trotzdem haben nur 32% der Bevölkerung im Kreis Rosenberg ihre Stimme für Polen abgegeben. Im Kreis Pless waren es aber 74%. Dank der Statistiken von 1910 kann auch analysiert werden welche, Rolle die Konfession spielte. Das kann besonders gut im Kreis Kreuzburg beobachtet werden. In diesem Kreis stimmten 95,8% für Deutschland, und das, obwohl fast die Hälfte der Bevölkerung oberschlesisch oder polnisch sprach, aber dafür mehrheitlich evangelisch war.

Was ich gerne noch auf dieser Karte darstellen würde, ist die politische Dimension. Dazu müsste man die Ergebnisse der Reichstagswahlen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg digitalisieren. Leider konnte ich bis jetzt nur sehr allgemeine Zahlen dazu finden – mit Ergebnissen für die ganze Region. Was man hier aber braucht, sind Wahlergebnisse auf Kreisebene mit Zahlen für jede politische Partei. Damit könnte man dann analysieren, welchen Einfluss die politische Partizipation auf die Ergebnisse der Volksabstimmung hatte.

Das heißt, dass dieses Projekt noch nicht abgeschlossen ist.

Ich freue mich über Ihre Rückmeldungen:
quo.vadis.silesia@gmail.com

Text: Adam Brzoska