Seit sieben Jahren dokumentieren Dawid Smolorz und Thomas Voßbeck deutsche Inschriften in Ober- und Niederschlesien
Über diese Arbeit und weitere Pläne sprechen sie mit Agnieszka Bormann, Kulturreferentin für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz.
AB: Vor einigen Tagen waren Sie wieder unterwegs und haben deutsche Inschriften fotografiert. Diesmal in Zgorzelec und im westlichen Teil der Wojewodschaft Niederschlesien. Gab es Überraschungen oder Besonderheiten?
DS: Insgesamt haben wir neun Orte besucht, wo wir mehrere Objekte dokumentiert haben. Ein Novum war für uns, dass es in diesem westlichen Teil Niederschlesiens so viele Gerichtskretschame gibt und dass man an den Fassaden einiger von ihnen die ursprüngliche Funktion immer noch ablesen kann.
AB: Sehen Sie Unterschiede zwischen der Art, Qualität oder der Dichte der Inschriften hier im westlichen Niederschlesien im Vergleich mit denen, die Sie bereits im weiteren Teilen der Region dokumentiert haben?
DS: Hinsichtlich der Art und Qualität eher nicht. Unterschiede lassen sich allgemein im Bereich der Dichte beobachten. Der Süden Schlesiens wurde von schweren Kriegshandlungen weitgehend verschont, daher gibt es dort mehr historische Bausubstanz als zum Beispiel in den Gebieten, über die 1945 die Route der Roten Armee in Richtung Berlin führte. Außerdem gilt allgemein die Regel: je vernachlässigter ein Ort, desto größer die Chance, historische Schriftzüge zu finden.
AB: Diese Schlussfolgerung basiert auf reichlicher Erfahrung. Schon seit 2018 dokumentieren Sie deutsche Inschriften in Schlesien, in Bild und Text. Was war der Impuls zu dem Vorhaben?
DS: Seit meiner Teenagerzeit nehme ich die deutschen Schriftzüge in Schlesien bewusst wahr. Jedes Mal, wenn ich eine alte Inschrift in Hindenburg oder Gleiwitz, den beiden Städten, in denen ich aufgewachsen bin, entdeckt habe, habe ich sie als eine Nachricht aus der Vergangenheit empfunden. Und der Umstand, dass sie noch in den 1980er Jahren ein Element des zum Vergessen verurteilten deutschen Erbes waren, machte das alles noch spannender. Zunächst habe ich für mein privates Archiv fotografiert. Ich habe das als eine Art Archäologie betrachtet – die Archäologie der Mauern. Einen professionellen und institutionellen Rahmen gab der Beschäftigung das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit (HDPZ) in Gleiwitz mit seinem Portal „Vergessenes Erbe“ (Zapomniane Dziedzictwo), wo die Inschriften präsentiert werden. Ihre Zahl wächst kontinuierlich, was auch durch die Förderung von vielen Institutionen und Stiftungen aus Deutschland und Polen ermöglicht wird.
AB: Warum ist Ihnen das Projekt so wichtig, dass Sie so lange daran arbeiten? Was ist Ihre Motivation?
DS: Man könnte sagen, wenn man einmal damit angefangen hat, lässt das Thema einen nicht mehr los. Denn auf den Reisen durch Ober- und Niederschlesien findet man immer wieder neuen Stoff. Und die Erkenntnis, dass man unter bröckelndem Putz zwar oft neue Aufschriften findet, aber die, die man früher entdeckt hat, nicht selten verschwunden sind oder bald wieder verschwinden, motiviert zur Fortsetzung dieser Dokumentationsarbeit. Es mag pathetisch klingen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass durch unsere Arbeit ein Stück schlesischer Geschichte erhalten bleibt. Und zwar ein sehr brüchiges Stück.
Was uns sehr motiviert, sind die meist positiven Reaktionen. Vor allem Menschen, die sich unabhängig von ihrer Herkunft für die Vergangenheit der Region interessieren, finden es spannend und sind überrascht, dass auch solche profanen – man könnte sagen: banalen – Elemente wie Schriftzüge zum historischen Erbe gehören und dass sich durch sie die regionale Geschichte erzählen lässt.
Seinerzeit habe ich für das Internetportal des Mitteldeutschen Rundfunks einen Beitrag darüber geschrieben, wie man heutzutage mit den historischen deutschen Inschriften in Schlesien umgeht. Die Resonanz war überwältigend. Das war für mich ein klares Signal, dass dieses Thema auch in Deutschland Potenzial hat.
AB: Und wie kommt es dazu, dass ausgerechnet ein deutscher Fotograf aus Berlin deutsche Inschriften in Schlesien dokumentiert?
TV: Ich reise inzwischen seit mehr als zwanzig Jahren in die Region. Angefangen hatte damals alles mit einer gewissen fotografischen Neugier auf das oberschlesische Industriegebiet. Über das HDPZ haben wir damals Dawid Smolorz kennengelernt und nach unserem ersten Ausstellungsprojekt „Begegnungen im Oberschlesischen Industriegebiet“ direkt das Potential erkannt, gemeinsam über verschiedene Themen noch tiefer in diese spannende Region einzutauchen. Dawid, der als bereits erfahrener Regionalforscher verschiedene Arbeiten für das Radio und andere Medien gemacht hatte, war da der ideale Partner.
Es folgten 2009/10 das Buch- und Ausstellungsprojekt „Struktur & Architektur. Das postindustriele Kulturerbe Oberschlesiens“, und im Jahr 2016/17 verwirklichten wir Dawids Idee „Oberschlesien aus der Luft“. Als Dawid dann mit der Idee an mich herantrat, diese historischen Inschriften zu dokumentieren, war ich natürlich gern bereit, daran mitzuarbeiten. Seitdem haben wir inzwischen so einen wachsamen Blick entwickelt und entdecken oft – auch während anderer Projektreisen – neue Motive.
AB: Was bedeutet das Dokumentieren von deutschen Inschriften in Polen für Sie persönlich?
TV: Ich werde oft gefragt, ob meine Vorfahren eventuell aus der Region stammen und gerade dies mein Antrieb und die Intension sei, an diesen schlesischen Projekten zu arbeiten, aber dem ist nicht so. Ich finde die Themen spannend und über die vielen Jahre der Zusammenarbeit hat sich daraus eine gewisse Dynamik bei der Realisierung von Ideen entwickelt. Heutzutage spielt es ja auch keine so große Rolle mehr, wo man wohnt. Das war vor zwanzig Jahren noch komplizierter.
Ich bin in den 1970-80er Jahren in Leipzig aufgewachsen, in einem Stadtteil, in dem es einen sehr hohen Anteil an alter, nahezu verfallener Bausubstanz aus der Vorkriegszeit gab. Mit diesen Aufschriften wie Kolonialwaren, Kohlenhandlung, Seife oder Drogerieartikel und vielen mehr bin ich sozusagen groß geworden. Natürlich waren sie dort kein Problem eher ein Zeichen aus einer anderen Zeit. Sie hatten ihre Funktion längst verloren und man sah sie nur noch, weil die Häuser einfach nicht saniert werden konnten.
Die Außergewöhnlichkeit, dass diese Inschriften in der Form hier und da noch heute in Polen zu finden sind, hat mich also auch vor dem Hintergrund meiner eigenen Kindheitserinnerungen fasziniert.
Ich bedaure es manchmal, dass wir diese Art der dokumentarischen Arbeit, auch wenn sie natürlich dort einen anderen Charakter gehabt hätte, nicht auch in meiner Heimatstadt Leipzig machen konnten. Durch Renovierung und Veränderung sind diese Zeugnisse der Vergangenheit irgendwann verschwunden.
AB: Jetzt dokumentieren Sie deutsche Inschriften in Schlesien und retten diese vor dem Verschwinden. Mehrere Hundert Fotografien haben Sie während der gemeinsamen Reisen mit Dawid Smolorz gemacht. Auf dem Portal „Vergessenes Erbe“ ist davon nur ein Teil zu sehen. Nach welchen Kriterien wird die Auswahl getroffen?
TV: Wir haben auf unseren insgesamt fünf mehrtägigen Reisen durch Ober- und Niederschlesien sehr viele Objekte gefunden und fotografiert. Auf dem Portal werden es inzwischen ca. 120 Objekte zu sehen sein. Nicht immer können wir noch vor Ort entscheiden, ob eine Inschrift gelesen und verstanden werden kann, da oft viele Teile bereits fehlen. Manchmal finden wir Schriftreste, die so gering sind, dass wir sie nicht in die Sammlung aufnehmen können.
DS: Bei der Auswahl der Motive für das Portal spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Manchmal ist der historische Hintergrund interessant, oft weiß oder vermute ich, dass eine bestimmte Inschrift aus irgendeinem Grund nicht mehr lange erhalten bleibt, und will sie deshalb unbedingt dokumentieren und zeigen. Außerdem sind viele historische Schriftzüge oder die Gebäude, an denen sie sich befinden, einfach ästhetisch. Auch dieser Faktor bleibt nicht unberücksichtigt.
AB: Deutsche Inschriften in Schlesien wecken unterschiedliche Emotionen. Die Reaktionen auf ihre Erhaltung, Sichtbarmachung oder Restaurierung reichen von Begeisterung über Akzeptanz bis hin zur scharfen Kritik – genauso wie die Reaktionen auf ihre Beseitigung. Für viele gehören die einfach dazu, als Zeugen der Geschichte, andere empfinden sie ein Störfaktor. Wie haben Sie das erlebt?
DS: Die Reaktionen sind tatsächlich unterschiedlich, aber meistens doch positiv. Ich kann mich erinnern, der Initiator der Renovierung einer deutschen Inschrift an einem Bürgerhaus in Gleiwitz erzählte mir, dass alle Einwohner ohne Ausnahme seine Idee unterstützt hatten und dass er jetzt jeden Tag mit großer Freude beobachtet, wie Passanten vor dem Gebäude stehen bleiben, um sich ein Selfie zu machen. Negative Reaktionen gibt es natürlich auch. Eine Dame aus einem kleinen Ort im Glatzer Land berichtete, dass sie sich mehrmals böswillige Kommentare der Nachbarn hatte anhören müssen, nachdem sie an ihrem eigenen Haus einen deutschen Schriftzug – eigentlich war das nur ein Wort – hatte renovieren lassen. Das war für sie zwar unangenehm, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Das ist Teil der Geschichte meines Hauses, sagte sie. Wir kennen auch einen Fall, wo eine bereits restaurierte deutsche Inschrift an einem ehemaligen Bahnhofsgebäude nahe Löwenberg mit einem polnischsprachigen Schild verdeckt werden musste, weil sich unter den Einwohnern Empörung breitmachte. Die Kritiker sind meistens lauter als die Befürworter. Fakt ist aber, dass solche Renovierungsinitiativen bei den meisten Bürgern gute oder neutrale Emotionen wecken.
AB: Wie reagieren Menschen vor Ort auf Ihre Arbeit? Kommen Sie mit ihnen ins Gespräch?
DS: Mehrmals haben wir uns mit Menschen unterhalten, die in den fotografierten Gebäuden wohnen. Oft komme ich mit ihnen ins Gespräch, um zu erklären, was wir machen, und um zu erfahren, was sie von solchen Relikten halten. Ist das ein Haus mit einem renovierten Schriftzug, frage ich auch immer nach der Motivation und der Resonanz. In neun von zehn Fällen sind die Bewohner an unserer Arbeit interessiert.
AB: Immer öfter hört man auch Geschichten darüber, dass das Potenzial von Inschriften – ob als Werbemittel, Identifikationsmerkmal oder gar touristische Attraktion – entdeckt und benutzt wird. Sind Sie auch solchen Fällen begegnet?
DS: Ja, durchaus. Von einem Mann habe ich einmal die Äußerung gehört: „Unser Haus war vorhin so stillos. Durch die Renovierung der deutschen Inschrift bekam es ein Merkmal, das es von anderen Gebäuden unterscheidet und darauf aufmerksam macht“. Ich kenne eine interessante Geschichte aus Beuthen. Dort mieteten zwei Damen einen Raum, um die Erzeugnisse ihrer Bekleidungsfirma zu verkaufen. Als sie das Plastikschild des Vorgängerladens entferntem, sahen sie die deutsche Inschrift „Bäckerei und Konditorei“. Sie ließen sich von dieser Entdeckung inspirieren und beschlossen, ihre Firma „Bäckerei“ zu nennen. Und so hat man heute in Oberschlesien die einmalige Möglichkeit, Kleidung in einer „Bäckerei“ zu kaufen.
AB: Gibt es Pläne, die Arbeit fortzusetzen? Wenn ja, in welchen Teilen Schlesiens?
DS: Natürlich möchten wir das Projekt fortsetzen. Stoff gibt es ja genug. Wann und wo es weitergeht, können wir allerdings noch nicht sagen. Wenn es uns in den kommenden Monaten gelingt, Förderer zu finden, würde ich gerne den nordwestlichen Teil Niederschlesiens um Grünberg und Glogau sowie das Gebiet zwischen Oppeln und Breslau besuchen, denn diese Gegenden sind bei uns unterrepräsentiert. Teilweise liegt das zwar – wie erwähnt – daran, dass es dort kriegsbedingt weniger historische Bausubstanz gibt als im Süden Schlesiens. Dennoch möchte ich das, was dort an historischen Schriftzügen vorhanden ist, dokumentieren. Auch wenn wir in Schlesien genug Stoff finden, schwebt es uns vor, auch in anderen Regionen, die früher ebenfalls zu Deutschland gehörten – etwa in Ermland-Masuren oder Pommern – ähnliche Projekte umzusetzen.
AB: Bevor Sie aber weitere Dokumentationsreisen planen, bereiten Sie die Fortsetzung des Inschriften-Projektes in Form einer Ausstellung vor.
DS: Im Hinterkopf hatten wir seit Langem die Idee einer Veröffentlichung. An eine Ausstellung haben wir zunächst gar nicht gedacht. Der entscheidende Impuls kam von Frau Waltraud Simon von der Erika-Simon-Stiftung, die das Inschriften-Projekt auch fördert. Vor zwei Jahren habe ich im Schlesischen Museum in Görlitz einen Vortrag über deutsche Inschriften in Schlesien gehalten. Und nach dieser Veranstaltung telefonierte ich mit Frau Simon, die bedauerte, „bei der Eröffnung der Ausstellung nicht dabei gewesen zu sein“. Dieser Irrtum – ich hatte ja nur einen Vortrag gehalten – hat mich dazu bewegt, im Schlesischen Museum das Interesse für eine solche Ausstellung zu sondieren. Die Idee wurde positiv aufgenommen und so werden wir bald die Möglichkeit haben, Ergebnisse unserer Arbeit auf Großformatbildern in der Ausstellung „Zeichen der Zeit“ zu präsentieren. Es war eine ziemliche Herausforderung, die Bilder hierfür auszuwählen. Neben ästhetischen Kriterien war es mir wichtig, dass die Bilder eine repräsentative Gruppe darstellen. Das heißt, dass es mehr oder weniger ein Gleichgewicht zwischen Objekten aus Ober- und Niederschlesien gibt und dass wir sowohl renovierte als auch originale Inschriften präsentieren.
AB: Was erhoffen Sie sich von der Ausstellung?
TV: Mich reizt die Möglichkeit, die Fotos analog zu präsentieren, so, wie ich sie mir als Urheber vorstelle. Im Online-Bereich habe ich keinen Einfluss auf das Ergebnis, das sich beim Betrachten einstellt. Das Format ist begrenzt und das optische Erlebnis abhängig von der Qualität des Ausgabemediums. In einer Ausstellung gewinnen die Fotografien durch entsprechende Raumgestaltung und Beleuchtung an Präsenz. Zudem steht auch das Betrachten und Vergleichen der einzelnen Exponate, nach Möglichkeit auch gemeinsam mit anderen Besuchern, in einer ganz anderen Qualität. Das Original zu sehen, den erläuternden Text dazu zu lesen, ist eben eine ganz andere visuelle Erfahrung als am Bildschirm zu sitzen und durch den „Bilderwald“ zu scrollen.
DS: Die Ausstellung wird in einer Institution präsentiert, die Schlesien zeigt und über Schlesien erzählt. Wir hoffen dadurch ein noch breiteres, interessiertes Publikum zu erreichen und auf ein Phänomen hinzuweisen, dass in Deutschland bisher nicht allzu oft thematisiert wurde.
TV: Vielleicht kann eine solche Ausstellung auch dazu beitragen, generell Menschen auf das kulturelle Erbe zu sensibilisieren, so dass wir alle damit achtsamer umgehen.

Das Interview wurde am 9. November 2025 durchgeführt und ist bereits im Magazin „Schlesien heute“ Nr. 12/2025 erschienen.
Info: Die Ausstellung „Zeichen der Zeit. Deutsche Inschriften in Schlesien“ wird vom Schlesischen Museum zu Görlitz in Kooperation mit dem Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz organisiert. Förderer sind die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und die Erika-Simon-Stiftung. Die Ausstellung wird am 30. Januar 2026 in Anwesenheit von Dawid Smolorz und Thomas Voßbeck eröffnet. Mehr Infos hier.
