Schlesisch und mährisch zugleich

Ostrau/ Ostrava – die drittgrößte Stadt Tschechiens

In der Kategorie „Regionale Vielfalt innerhalb einer Stadt“ wäre Ostrau wohl der Europameister.

Denn nicht nur erstreckt es sich in seinen aktuellen Verwaltungsgrenzen sowohl über Schlesien als auch über Mähren. Als wäre das nicht genug, haben wir es bei den schlesischen Gebieten mit keiner einheitlichen Struktur zu tun. Die Stadt umfasst ja Teile des Teschener Schlesien, des Troppauer Schlesien und des Hultschiner Ländchens, also des früheren preußischen Oberschlesien.

 

Jahrhundertelang existierten dicht nebeneinander, praktisch in Sichtweite, aber durch politische und Verwaltungsgrenzen voneinander getrennt zwei Orte: Mährisch-Ostrau und Schlesisch-Ostrau. Der erstgenannte Ort wurde am Zusammenfluss der Oder und der Ostrawitza gegründet – in einem mährischen Keil, der tief ins Schlesische hineinragt. Die beiden Flüsse bildeten in dieser Gegend schon seit dem 13. Jahrhundert die Grenze zwischen Schlesien und Mähren. Schlesisch-Ostrau entstand dagegen am östlichen Ostrawitza-Ufer und entwickelte sich im Schatten seiner mährischen „Schwester“, die bereits vor 1279 das Stadtrecht erhalten hatte. Der schlesische Ort, der bis 1919 offiziell den Namen „Polnisch-Ostrau“ trug, musste auf dieses Privileg bis 1920 warten. Außer der regionalen Zugehörigkeit unterschied noch eines die beiden Orte: die Sprache ihrer Einwohner. Auf der mährischen Seite dominierte vom Mittelalter bis zur Vertreibung von 1945 die deutsche Bevölkerung. In dem schlesischen Nachbarort wurden dagegen stets tschechische Dialekte gesprochen. 

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten der Bergbau und das Hüttenwesen die Landschaft dieses Teiles des schlesisch-mährischen Grenzlandes vollständig. Fortan waren Fördertürme und Hochöfen ihr charakteristisches Element. Schlesisch-Ostrau genoss in der Zwischenkriegszeit sogar den Ruf des größten Bergbauzentrums der Tschechoslowakei. Der Zusammenschluss von Schlesisch- und Mährisch-Ostrau sowie der Vororte wurde bereits in den 1930er Jahren erwogen. Diese Pläne wurden jedoch damals nicht verwirklicht, weil sich die interessierten Verwaltungen unter anderem nicht einigen konnten, ob die neue Stadt zum Bezirk Schlesien oder Mähren gehören sollte. Erst in der Zeit des von der deutschen Besatzungsmacht ins Leben gerufenen Protektorats Böhmen und Mähren wurden Schlesisch-Ostrau und Mährisch-Ostrau 1941 zusammengeschlossen.

Seit dem politischen Umbruch in Mitteleuropa und der Umstrukturierung der Schwerindustrie arbeitet die Stadt konsequent an ihrem neuen Image. Vor allem junge Menschen assoziieren die mährisch-schlesische Metropole nicht mehr mit Berg- und Hüttenwerken, sondern mit dem Musikfestival „Colors of Ostrava“ und der weit über die Grenzen der Region hinaus bekannten Straße Stodolní, die dank ihren unzähligen Klubs, Bars und Restaurants oft als „eine Straße, die nie schläft“ bezeichnet wird. Was die Zeche „Zollverein“ für das Ruhrgebiet ist, ist für den Ostrau-Karwinaer Kohlebecken der Komplex „Dolni Vitkovice“ im Stadtteil Witkowitz. Früher eines der größten Stahl- und Hüttenwerke Mitteleuropas fungiert es heute als in vielerlei Hinsicht untypisches Museum und Kultureinrichtung mit spannendem Veranstaltungsprogramm. Mit seinen knapp 300.000 Einwohnern ist Ostrau nach Prag/Praha und Brünn/Brno die drittgrößte Stadt Tschechiens.

Text: Dawid Smolorz