Lost Place Karwin: Verschwundene Stadt in Tschechisch-Schlesien

Es kommt vor, dass Ortschaften aufgegeben oder bei großen Bauvorhaben verlegt bzw. neu gegründet werden 

Hier ist eine Stadt mit 22.000 Einwohnern von der Erdoberfläche verschwunden.

Das ursprüngliche Karwin/ Karviná entstand im Mittelalter als eine deutsch-slawische Siedlung. Wie viele andere Ortschaften in der Gegend, für die das nahe Freistadt/Fryštát den Mittelpunkt bildete, blieb es über Jahrhunderte hinweg ein unauffälliger Ort. Erst mit der Entdeckung reicher Steinkohlevorkommen im 19. Jahrhundert begann ein neues Kapitel in der Geschichte des bisherigen Dorfes Karwin. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurden dort mehrere Bergwerke eröffnet und an der Stelle von Bauernhöfen entstanden städtisch anmutende Bauten. Bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war der junge Industrieort, der immer noch den Status einer Landgemeinde hatte, mit seinen 15.000 überwiegend polnischsprachigen Einwohnern dreimal so groß wie die knapp fünf Kilometer entfernte Stadt Freistadt. Drei Jahre nachdem der westliche Teil des Teschener Schlesien und somit auch Karwin endgültig der Tschechoslowakei zugesprochen worden war, erhielt der Ort 1923 endlich das Stadtrecht. In den 1930er Jahren überschritt er die 20.000-Einwohner-Grenze.

Karwin, Stadtansicht aus den 1930er Jahren. Quelle: Wikimedia Commons.

1949 wurde Karwin mit Freistadt zusammengeschlossen. Der erstere Ort gab der neuen Stadt den Namen, der letztere fungierte fortan als Stadtzentrum. Doch nicht deswegen hörte das ursprüngliche Karwin wenige Jahrzehnte später praktisch auf zu existieren. Seit den 1950er Jahren betrieb dort die kommunistische Verwaltung eine Raubwirtschaft. Ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung und die Bausubstanz mussten die Bergwerke möglichst große Mengen an Steinkohle liefern. Infolge der Bergbauschäden entvölkerten sich nach und nach ganze Straßenzüge, da vielen Gebäuden Einsturz drohte. So verschwand langsam der Industrieort Karwin von der Erdoberfläche. Wo früher Kirchen, Arbeitersiedlungen, ein Kino, ein imposantes Rathaus, ein mit Park umgebenes Schloss und eine Brauerei standen, erstrecken sich heute Wiesen und unbebaute Brachen. Auch von der Landkarte verschwand der Ort in einem gewissen Sinne. Zwar übernahm die durch den Zusammenschluss gebildete Stadt seinen Namen, doch das eigentliche Karwin wurde offiziell zu „Doly“ (tschechisch: „Bergwerke“) umbenannt.

Auf dem Gelände der ursprünglichen Stadt Karwin existieren heute noch ein Bergwerk und ein Bahnhof. Die Zahl der festen Einwohner beträgt um die 800. An die Blütezeit des einst bedeutenden Industriezentrums, das einem der größten Montangebiete Österreich-Ungarns und später der Tschechoslowakei den Namen gegeben hat (Ostrau-Karwiner Kohlerevier), erinnern nur noch wenige Relikte, unter anderem Ruinen stillgelegter Bergwerke, die (schiefe) Kirche St. Petrus von Alcantara und das Denkmal für die Opfer des Grubenunglücks von 1895.

Text: Dawid Smolorz