Der Stadtrat von Wrocław (Breslau) würdigt den 130. Geburtstag (2021) und den 80 Todestag (2022) der großen Breslauerin
Edith Stein hat viele Spuren in der Stadt hinterlassen.
Der Stadtrat von Wrocław (Breslau) beschloss, das Jahr 2022 zum Edith-Stein-Jahr zu erklären. Auf diese Weise wollen die Stadtväter der niederschlesischen Hauptstadt den 130. Geburtstag (2021) und den 80. Todestag (2022) der Breslauerin, Jüdin, Philosophin, Karmelitin, Märtyrerin, Seliggesprochenen, Heiligen und Schutzpatronin Europas begehen.
Edith Stein ist heute als Schwester Teresia Benedicta a Cruce (Theresia Benedikta vom Kreuz) bekannt und als Verfasserin von zahlreichen philosophischen Werken hochgeschätzt. In Breslau ist sie zur Welt gekommen, hier verbrachte sie ihre Jugendjahre, besuchte Schulen, studierte vier Semester an der Breslauer Universität. An ihr Leben und Wirken wird in diesem und nächsten Jahr besonders erinnert.
Edith Stein wurde am jüdischen Versöhnungstag – Jom Kippur – am 12. Oktober 1891 geboren. Weil es ein bewegliches Fest ist, konnte sie zweimal im Jahr ihren Geburtstag feiern. Sie war das jüngste Kind von Siegfried und Auguste Stein, geb. Courant. Der Vater beschäftigte sich mit Holzhandel, die Mutter führte den Haushalt. Nach dem Tod von Siegfried Stein (Edith war zwei Jahre alt, als er am Hitzeschlag starb), entschied sich die Mutter, allein das Holzgeschäft weiterzuführen. „Sie war eine Kaufmannstochter und besaß von Natur aus die spezifisch kaufmännische Begabung: sie konnte ausgezeichnet rechnen, sie besaß den richtigen Blick dafür, was ein »Geschäft« ist, Mut und Entschlossenheit, um im rechten Augenblick zuzugreifen, und doch genügend Vorsicht, um nicht zu viel zu wagen; vor allem im höchsten Maß die Gabe, mit Menschen umzugehen“ – schrieb Edith Stein über ihre Mutter.
In der Ausstellung „1000 Jahre Breslau“ im Königlichen Schloss in Wrocław kann man die ganze Familie Stein sehen. Das Ausstellungsstück ist anhand einer berühmten Fotomontage eines Familienbildes entstanden. Weil der Vater Siegfried plötzlich verstorben ist und die Familie kein gemeinsames Foto hatte, entschied sich die Mutter den Vater aus einem anderen Foto auszuschneiden und in das Familienfoto einzukleben. Das kleinste Mädchen mit den klugen Augen, das auf den Knien ein Buch hält – das ist Edith Stein. Sie ist hier ca. 6 Jahre alt. Das Buch auf den Knien war kein seltenes Bild im Fall von Edith Stein. Sie war von Anfang an ein außerordentlich begabtes und hochintelligentes Kind. „Als mein 6. Geburtstag herannahte, beschloss ich, dem verhassten Kindergartendasein ein Ende zu machen. Ich erklärte, dass ich von diesem Tage an unbedingt in die »große Schule« gehen wollte, und wünschte mir das als einziges Geburtstagsgeschenk; andernfalls wollte ich ohne dieses keine andern annehmen“ – steht in den Erinnerungen von Edith Stein.
Die Schule, die sie so gern besuchen wollte, war die Victoriaschule – ein protestantische Schule für Mädchen, die der Kaiserin Victoria gewidmet war – zuerst an dem ehemaligen Ritterplatz 1 (heute Plac Nankiera), dann seit 1909 in dem neuen Gebäude in der Blücherstraße 9-13 (heute Allgemeinbildendes Lyzeum Nr. 1 in der ul. Poniatowskiego 9). Hier lernte Edith Stein zusammen mit den Schülerinnen anderes Glaubens. Die Abiturprüfung hat sie am 3. März 1911 abgelegt. Nach der Prüfung schrieben die Lehrer für ihre Schüler zum Andenken kurze Sprüche. Der Direktor der Schule schrieb für Edith einen Spruch, der sich direkt auf ihren Namen bezog: „Schlag an den Stein und Schätze springen hervor“. Fünf Jahre später (1916) kehrte Edith Stein hier als Lehrerin zurück. Sie unterrichtete Deutsch, Latein, Geschichte und Erdkunde. Nebenher bereitete sie sich auf ihr Doktorexamen vor, das sie nicht in Breslau, sondern in Freiburg ablegte.
An der Breslauer Universität studierte Edith Stein vier Semester lang. Sie studierte Germanistik, Geschichte, Psychologie und Philosophie. „Das alte graue Gebäude an der Oder (vor einigen Jahren hat man es »im Stil der Zeit« gelb angestrichen) war mir schnell eine liebe Heimat geworden. In freien Stunden setzte ich mich gern in einem leeren Hörsaal auf eins der breiten Fensterbretter, die die tiefen Mauernischen ausfüllten, und arbeitete dort. Von diesem Hochsitz konnte ich auf den Fluss und die belebte Universitätsbrücke hinaussehen und kam mir vor wie ein Burgfräulein“.
Zum Sommersemester 1913 ging sie an die Universität Göttingen, um bei dem verehrten Philosophen Edmund Husserl zu studieren. Aber sie kam immer wieder zu Besuch nach Breslau, auch nachdem sie 1922 die Taufe einnahm und katholisch wurde. „Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht“ – schrieb Edith Stein. Während des Aufenthaltes in Breslau nahm sie regelmäßig an den Messen in der Michaeliskirche teil. Um 6 Uhr früh kniete sie dort in den ersten Reihen. Das letzte Mal war Edith Stein in Breslau am 11. Oktober 1933, bevor sie endgültig zu den Karmelitinnen nach Köln ging.
Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 entschloss sie sich zum Umzug in ein Kloster außerhalb Deutschlands und siedelte schließlich Ende Dezember in den Karmel im niederländischen Echt über. Ihre Schwester Rosa konnte sie im Juli 1939 zu sich holen. Mit der deutschen Besetzung der Niederlande im Frühjahr 1940 waren die Schwestern auch hier nicht mehr sicher. Anfang Juli 1942 begannen die Massendeportationen von Juden aus den Niederlanden. Edith und Rosa Stein wurden am 2. August 1942 von der Gestapo verhaftet und am 4. August in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Edith Stein, als Häftling mit der Nummer 44074, ist am 9. August 1942 in einer Gaskammer ermordet worden. Von den sieben Geschwistern haben vier infolge des Holocausts ihr Leben verloren: Edith und Rosa in Auschwitz-Birkenau und Elfriede und Paul in Theresienstadt.
Text und Fotos: Małgorzata Urlich-Kornacka
Zitate aus: Edith Stein, „Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere biographischen Beiträge“.