Grünberg in Schlesien und Grünberg in Hessen feiern das Jubiläum des 800-jährigen Bestehens
Zufall oder geschichtliche Fälschung? Aus der Koinzidenz soll eine Partnerschaft werden.
Grünberg in Schlesien (heute Zielona Góra) feiert in diesem Jahr sein 800-jähriges Bestehen. Der Überlieferung nach wurde die Stadt im Jahr 1222 gegründet. Szymon Płóciennik, engagierter Regionalist und Journalist der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ hat herausgefunden, dass ein ähnliches Jubiläum auch eine gleichnamige Stadt in Hessen in Deutschland feiert.
Die offiziellen, von der Stadtverwaltung organisierten Feierlichkeiten beginnen in Zielona Góra während des traditionellen Weinlese-Festivals (Winobranie) im September 2022. Inoffiziell wird bereits seit dem 1. Januar gefeiert. An dem Tag haben die lokale Redaktion der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza” gemeinsam mit der Stiftung Fundacja Tłocznia (dt. Weinpresse) einen Abendspaziergang mit Petroleumlampen auf den höchsten Punkt von Zielona Góra organisiert und damit das Jubiläumsjahr eröffnet.
Der Überlieferung nach wurde Grünberg im Jahr 1222 gegründet, doch gibt es keine Dokumente, die dieses Datum bestätigen. Es wurde jedoch von den deutschen Chronisten und Historikern der Vorkriegszeit als Ortsgründungsdatum anerkannt. Sie erwähnen den 30. Mai 1222.
Im Jahr 1922 wurde das 700-jährige Bestehen von Grünberg pompös gefeiert. Bei dieser Gelegenheit wurde u. a. das Stadtmuseum eröffnet und die Monographie der Stadt des Regionalisten Hugo Schmidt „Geschichte der Stadt Grünberg, Schles.“ veröffentlicht. Bis heute ist sie das wichtigste Werk über zur Geschichte von Grünberg, auch für die polnischen Historiker und Regionalwissenschaftler. Schmidt verfügte über viele Quellen, die heute als verloren gelten.
Woher stammt die Information, dass der 30. Mai 1222 das Datum der Gründung von Grünberg ist? Hugo Schmidt schreibt zu diesem Tag:
Nach einer „in alten handschriftlichen Chroniken aufbewahrten Sage“ soll an dem Ort, wo jetzt das Rathaus steht, als erster Anfang Grünbergs eine Meierei mit einem Schafstall angelegt worden sein. Die Wiesen, welche den Lauf der Lunze umsäumten, mögen zur Viehzucht eingeladen haben. So gibt Wolff in einer „Geschichte der Stadt Grünberg in Niederschlesien“ (Grünberg, 1848, S. 11) an, ohne indessen die Quelle dieser alten Ueberlieferung genauer zu nennen. Nach ihm bezeichnet die erwähnte Ueberlieferung den 30. Mai 1222 als den Tag, an dem der eben geschilderte Anfang zur Gründung unseres Ortes gemacht wurde.
In der sogenannten Steinbach-Chronik aus dem 18. Jahrhundert, die heute verloren ist, findet sich ein Hinweis, den Schmidt zitiert:
„In einer alten geschriebenen Nachricht, die ein hiesiger Bürger besessen hat, den seinen Nachkommen aber verloren gegangen ist, hat man als zuverläßige Nachricht gefunden, daß der Grund Stein zu unserer Stadt Grünberg den 30ten May 1222 gelegt worden, der unter dem Rathause liegen soll, wo vor diesem eine Schäferey gestanden hat.“
Der Historiker des 18. Jahrhunderts stützte sich also auf ein Dokument, das bereits zu seiner Zeit verloren war.
Weitere Informationen über die Anfänge von Grünberg finden sich in der Chronik von Nippe, die als älteste Chronik von Grünberg gilt. Der Autor, Johann Nippe, war von 1624 bis 1651 Pfarrer in Grünberg. Die Chronik ist heute verloren, aber zu Hugo Schmidts Zeiten wurde sie im Staatsarchiv in Breslau (heute Wrocław) aufbewahrt. Schmidt erklärt jedoch, dass wir aus Nippes Chronik nichts über die Ursprünge von Grünberg erfahren werden, da die ersten Seiten unleserlich geworden sind.
Interessanterweise schreibt Schmidt weiter: „Am 31. Mai 1321 sollen dann die Grünberger an der Stelle der ehemaligen Meierei den Grundstein zu ihrem Rathause gelegt haben“. Auch hier ist kein Dokument erhalten, die Darstellung beruht ausschließlich auf Überlieferung. Der Tag ist fast identisch mit dem der Ereignisse von 1222.
800 und 700 Jahre – zwei Jubiläen, ein großes Fest
Die Stadt Zielona Góra/ Grünberg feiert nicht nur ihr 800-jähriges Bestehen, sondern bereitet sich auch auf die 700-Jahr-Feier der Verleihung der Stadtrechte vor. Es wird angenommen (unter Historikern ist dies umstritten), dass dies im Jahr 1323 geschah, obwohl keine Urkunde überliefert oder bis heute erhalten geblieben ist. Die erste schriftliche Erwähnung von Grünberg stammt aus dem Jahr 1302. Darin wird das Dorf Henrichesdorf (später Heinersdorf, heute Jędrzychów) als „im Grünberger Gebiet (territorio Grunenbergense) gelegen“ erwähnt.
Die Feierlichkeiten zum Doppeljubiläum in Zielona Góra werden bis zum nächsten Weinlese-Festival 2023 andauern. Das Ehrenkomitee für die 800- und 700-Jahr-Feiern wird von Professor Czesław Osękowski, Historiker und ehemaliger Rektor der Universität von Zielona Góra, geleitet. Die Stadt bittet die Bürger um Vorschläge für die Gestaltung der Feierlichkeiten. Sie hat die sog. „Bank der guten Ideen“ ins Leben gerufen. Sie können u. a. an die E-Mail-Adresse 800-700lat@um.zielona-gora.pl gesendet werden. Die besten davon sollen umgesetzt werden.
“Diese beiden Daten, 1222 und 1323, sind von großer Bedeutung für die Geschichte unserer Stadt. Wir wussten nicht, welches Datum wichtiger war, es ist schwer, sich zu entscheiden, daher die Idee, diese Feiern zu kombinieren. Einerseits wird das Jahr 1323 häufig erwähnt. Zum anderen wurde 1922 das 700-jährige Bestehen von Zielona Góra gefeiert. Die runden Jahrestage liegen Jahr für Jahr dicht beieinander, und so haben wir beschlossen, dass dies eine bestimmte Klammer sein könnte, die die Feierlichkeiten miteinander verbindet” – so Stadtpräsident Janusz Kubicki.
Grünberg in Hessen
Vor dem Zweiten Weltkrieg war Zielona Góra eine deutsche Stadt mit dem Namen Grünberg in Schlesien. Im Jahr 1939 hatte sie etwa 26 Tausend Einwohner. Zu dieser Zeit gab es in Deutschland noch mehrere andere Städte mit dem Namen Grünberg. Die größte davon liegt in Hessen und heißt Grünberg in Hessen. Sie hat knapp 14.000 Einwohner.
Grünberg in Hessen feiert in diesem Jahr ein ähnliches Jubiläum wie Zielona Góra, nämlich den 800. Jahrestag der ersten Erwähnung der Stadt. Im Gegensatz zu Zielona Góra ist hier eine Urkunde aus dem Jahr 1222 erhalten geblieben, in der der Name der Stadt zum ersten Mal erwähnt wird. Es wird im Archiv in Lich, Hessen, aufbewahrt.
Das Jahr ist das gleiche, die Tagesdaten sind unterschiedlich. Im schlesischen Grünberg soll es der 30. Mai 1222 sein. Im hessischen Grünberg ist die Urkunde auf den 13. März 1222 datiert. Darin heißt es – auf Lateinisch – “et sigillo civitatis in Gruninberc”. Zur Zeit der Gründung der beiden Städte waren die Zusätze “in Hessen” oder “in Schlesien” noch nicht gebräuchlich.
Grünberg in Hessen feierte so wie Grünberg in Schlesien ebenfalls 1922 sein großes Jubiläum. Im Jahr 1977 feierte die Stadt ihr 750-jähriges Bestehen.
Grünberg in Hessen bereitet sich seit mehreren Jahren auf die 800-Jahr-Feier vor. Eine Website für die Feierlichkeiten ist eingerichtet und unter 800jahre.gruenberg.de in Betrieb. Die Hauptfeierlichkeiten finden am 13. März in der Stadthalle statt.
Zufall oder historischer Irrtum?
Diese Koinzidenz von wichtigen Daten zweier Städte mit identischen Namen wirft die Frage auf: Ist es ein Zufall, dass beide im Jahr 1222 gegründet wurden? Oder hat sich vielleicht einer der Chronisten von Grünberg in der Vergangenheit geirrt?
Wir haben Historiker und Regionalisten, Liebhaber von Zielona Góra, um ihre Meinung gebeten. Einige von ihnen wollen sich nicht dazu äußern, weil sie nicht über genügend Wissen zu diesem Thema verfügen. Die meisten glauben, dass es sich um einen Zufall handelt und dass im 13. Jahrhundert viele Städte entstanden sind. Einige von ihnen sagen: “Theoretisch könnte es sein, dass einer der Chronisten aus Grünberg einen Fehler gemacht und das Datum von Grünberg in Hessen als das Datum von Grünberg in Schlesien genommen hat, aber wir sind nicht in der Lage, dies zu überprüfen. Nichts ist hier nachprüfbar oder beweisbar“.
Prof. Marek Biszczanik, Autor der kürzlich erschienenen Übersetzung des ersten Teils der Monographie von Hugo Schmidt, behauptet:
“Unser” Jahr 1222 ist aus wissenschaftlicher Sicht ein hypothetisches Datum, wenn auch natürlich nicht unmöglich. Aus diesem Grund ist die 800-Jahr-Feier selbst nur ein Ausdruck des Wunsches, lokale Traditionen zu schaffen und zu pflegen, die uns offensichtlich fehlen. Wenn wir aber in Ermangelung besserer Daten das Jahr 1222 als Zeitpunkt der Gründung des Zentrums, aus dem die Stadt hervorging, annehmen, so scheint mir die Übereinstimmung mit Hessen rein zufällig zu sein, denn sonst müsste ja jemand von “unseren” Historikern Hessen mit Schlesien verwechseln. Ein solches Konzept wäre jedoch reines Wunschdenken. Grünberg in Hessen wurde 1222 gar nicht gegründet, sondern erst zu diesem Zeitpunkt expressis verbis als “Stadt” bezeichnet, zumindest was die bis heute erhaltenen Urkunden angeht, was an sich auch ein Zufall ist. Das Jahr 1222 kann kaum als Gründungsdatum der Stadt angesehen werden. Außerdem bezieht sich “unser” Jahr 1222 auf ein bestimmtes Datum des Tages: 30. Mai, der in Hessen nicht erwähnt wird, und der (nach einigen verlorenen Chroniken) im Übrigen nur eine Erinnerung an die Errichtung eines bescheidenen Schafstalls an der Stelle ist, an der heute das Rathaus von Zielona Góra steht. Diese Tatsache kann, selbst wenn wir ihren Wahrheitsgehalt ex cathedra akzeptieren, kaum mit der Gründung einer Stadt gleichgesetzt werden. Was ist die “Gründung einer Stadt” überhaupt? Die Errichtung des ersten Gebäudes, oder vielleicht der ersten fünf? Oder vielleicht der Bau einer Palisade? Wenn letzteres der Fall ist, dann kommt das Datum 1222 nicht in Frage.
Szymon Płóciennik, Journalist der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“:
Allein die Tatsache, dass es in Deutschland eine Stadt gibt, die den Namen Grünberg trägt, den gleichen wie Zielona Góra vor dem Krieg, macht sie einer Partnerschaft würdig. Und als sich nun herausstellte, dass auch das hessische Grünberg dem Jahr 1222 eine besondere Bedeutung beimisst (man könnte sagen, dass es dieses Datum als seinen eigenen Anfang betrachtet), rückt es noch näher an uns heran. Lassen Sie uns Grünberg in Hessen näher kennenlernen, lassen Sie uns gemeinsam das 800-jährige Jubiläum feiern. Es wäre schön, wenn die Vertretung von Zielona Góra an den Feierlichkeiten im März im hessischen Grünberg teilnehmen würde, und wenn die Vertreter von Grünberg in Hessen uns während der Weinlese besuchen würden. Dies ist unser idealer Partner. Ich reiche dieses Postulat bei der Bank der guten Ideen ein!
Text: Szymon Płóciennik, Erstabdruck in „Gazeta Wyborcza“ vom 14.01.2022
Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Agnieszka Bormann