Was ist uns die europäische Gemeinschaft wert?

Ein Bericht von Stefan P. Teppert

Bei ihrer zweiten Jahrestagung haben die Gemeinschaft evangelischer Schlesier und das Heimatwerk Schlesischer Katholiken “Schlesische Perspektiven auf Europa” erkundet.

Zu ihrer zweiten gemeinsamen Jahrestagung hatten die Gemeinschaft evangelischer Schlesier und das Heimatwerk Schlesischer Katholiken am 17.-18. Februar 2024 in den Erbacher Hof in Mainz geladen, um „Schlesische Perspektiven auf Europa“ zu erkunden und sich daran knüpfenden Erfahrungen, Hoffnungen und Befürchtungen in Deutschland und Polen vor der Europawahl Ausdruck zu verleihen.

Generalsuperintendent i. R. Martin Herche aus Görlitz, Vorsitzender der Gemeinschaft evangelischer Schlesier, sowie Dr. Bernhard Jungnitz aus Holzwickede, Vorsitzender des Heimatwerks Schlesischer Katholiken, begrüßten die Teilnehmer und freuten sich über einen gut gefüllten Saal. Sie zeigten sich zufrieden über ihre Allianz und optimistisch, das Miteinander auch künftig pflegen zu können.

Prof. Dr. Rainer Bendel, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO) in Stuttgart, hatte die Tagung zusammen mit den Veranstaltern organisiert und erläuterte die Motive der diesjährigen Themenwahl. Die Vertriebenen stünden allein schon durch ihre Geschichte für die Verbindung der beiden Lungenflügel Europas – des Westens und des Ostens. Bei ihnen sei Europa seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts ein zentrales, immer wieder diskutiertes Thema gewesen, vor allem auf dem Hintergrund der Frage nach Verständigung und Versöhnung. Im christlichen Kontext – also sowohl auf katholischer wie evangelischer Seite – spielten die Themen Schuld und Schuldbewältigung eine lange und intensive Rolle. Ein zweites Movens, so Bendel, war die christliche Soziallehre. Sie soll die wirtschaftlich fundierte Union durch Solidarität und Subsidiarität ergänzen.

Nicht mit fertigen Antworten, sondern mit Fragen ans Publikum sollte die Tagung beginnen. Wann ist mir Europa zum ersten Mal begegnet? Was bewegt mich oder was ist mir ein Anliegen hinsichtlich Europas? Pfarrer Dr. Matthias Paul aus Görlitz erzählte als Impuls von seiner ersten Begegnung mit Europa in Form der Essays und Reden des polnischen Schriftstellers Andrzej Szczypiorski (* 1928, † 2000) in seinem Buch „Europa ist unterwegs“ (Zürich 1996). Darin fasst der Autor zwei große Probleme ins Auge, die zu Anfang des neuen Jahrtausends die Aufmerksamkeit aller Christen auf sich konzentrieren werden: 1) die Notwendigkeit, den östlichen Teil Europas zu integrieren; 2) den Konflikt zwischen dem begüterten Norden und dem armen, rückständigen Süden. Paul gab den Teilnehmern eine halbe Stunde, um sich Antworten zurechtzulegen, auch im Gespräch miteinander. U. a. folgende Aspekte und Fragen wurden danach vorgebracht: Europa muss freizügig und wehrhaft sein, um die gemeinschaftlichen Werte nach außen und innen zu verteidigen, allerdings ohne militärische Missionierung. Kultureller Austausch bereichert. Private Beziehungen sind essenziell und horizonterweiternd. Bildung ist fundamental wichtig. Der Arbeitsmarkt wird flexibilisiert. Wer gehört zu Europa und wer entscheidet darüber? Wie wesentlich sind die jüdischen, antiken und christlichen Werte für Europa (noch)?

Prof. Dr. Anita Ziegerhofer ist am Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen der Universität Graz Leiterin des Fachbereichs Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung. Sie konnte nicht anwesend sein und stellte per Video ihre Präsentation der Persönlichkeit und des Lebenswerks von Richard Coudenhove-Kalergi vor. Er hatte die Idee einer Vereinigung der Völker Europas und war der Erste, der versucht hat, sie mittels Paneuropa-Bewegung und Paneuropa-Union organisatorisch, programmatisch und politisch umzusetzen. Coudenhove wurde 1894 in Tokio geboren und war der Sohn eines österreichisch-ungarischen Diplomaten und einer japanischen Mutter. 1896 kam er mit seiner Familie nach Europa und wuchs auf Schloss Ronsperg in Böhmen auf. 1923 erschien sein visionäres Buch „Pan-Europa“, das sich gut verkaufte und in viele Sprachen übersetzt wurde. Um intereuropäische Kriege zu verhindern, den West-Ost-Konflikt zu überwinden, konkurrenzfähig zu werden gegenüber der amerikanische und britischen, zukünftig auch der ostasiatischen und russischen Industrie sowie zum Schutz vor einer Invasion durch die Sowjetunion, strebte er durch die Schaffung eines Europäischen Staatenbundes u. a. einen autarken europäischen Wirtschaftsraum an, eine Währungsunion mit Zentralbank, die Harmonisierung des Rechts, eine gemeinsame Verfassung und ein europäisches Heer. Wichtig waren ihm – ganz in europäischer Tradition – Aufklärung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Ihm schwebte der Schutz nationaler und religiöser Minderheiten sowie Sprachen ebenso vor wie die Gründung einer europäischen Bundeshauptstadt. Bei der Verwirklichung seiner Pläne halfen ihm seine Beziehungen zu wichtigen Politikern, Spitzenbeamten, Wirtschaftsführern und Künstlern in ganz Europa. Als einflussreicher Lobbyist und Netzwerker versuchte er, seine weitsichtigen, geostrategisch motivierten Ziele zu befördern. Er war der Herold, Agitator und Propagandist der Idee einer Vereinigung Europas, einer einigen, freien und starken paneuropäischen Föderation, die kulturell vielfältig bleibt, aber weltpolitisch mit einer Stimme spricht. Als Gegner des Nationalsozialismus musste Coudenhove in die Schweiz und nach Amerika flüchten. Er brachte nach dem Krieg Adenauer und de Gaulle zusammen und war wohl der Vater des Eintritts Großbritanniens in die EWG 1972. In weiten Teilen ist Coudenhoves seherisches Vermächtnis aktueller denn je, abgesehen freilich von seinem historisch nachvollziehbaren, heute aber obsoleten Neokolonialismus.

Dr. habil. Robert Żurek machte die Teilnehmer mit seiner Präsentation über die Begegnungsstätte in Kreisau (Krzyżowa) bekannt, ein Ort in Niederschlesien, wo sich während der Zeit des Nationalsozialismus eine zivile Widerstandsgruppe (der „Kreisauer Kreis“) um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg mit Plänen zur politisch-gesellschaftlichen Neuordnung nach dem erwartbaren Zusammenbruch der Hitler-Diktatur befasste. An dieser symbolträchtigen Stätte fand am 12. November 1989 eine Versöhnungsmesse statt, bei der die damaligen Regierungschefs Deutschlands und Polens Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki ein Friedenszeichen austauschten. Diese Messe sei auch die Geburtsstunde der deutschen Minderheit in Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, so Żurek. Im Rahmen einer zivilgesellschaftlichen Initiative wurde 1989 auch die „Stiftung Kreisau für europäische Verständigung“ gegründet. Sie möchte satzungsgemäß Aktivitäten initiieren und fördern, die auf ein friedliches und von gegenseitiger Toleranz geprägtes Zusammenleben der Völker, Gesellschaftsgruppen und einzelnen Menschen zielen. Dadurch soll das Gedankengut des Kreisauer Kreises und der Versöhnungsmesse tradiert und das Zusammenwachsen Europas befördert werden. Żurek wies als Geschäftsführender Vorstand der Stiftung auf die Werte hin, von denen man sich in Kreisau leiten lässt. Damit Verständigung möglich wird, müsse es zuerst gegenseitigen Respekt und Dialogfähigkeit geben. Die dazu nötigen Rahmenbedingungen versuche man in der wohl größten internationalen Begegnungsstätte Europas den Besuchern bereitzustellen. Mit Willkommenskultur gebe man ihnen das Gefühl, sich wie zu Hause fühlen zu können, um so ein günstiges Klima für schwierige Gespräche und für eine Annäherung zu bieten. Zielgruppen seien vor allem Jugendliche sowie Lehr- und Bildungskräfte aus ganz Europa, die durch gemeinsame Aktivitäten und Aufgaben mehr erfahren sollen vor allem über Geschichte und Kultur, Demokratie und Zivilgesellschaft, nachhaltige Entwicklung und Ökologie. Auch die Bevölkerung aus der Umgebung und private Gruppen werden eingeladen. 55 Personen seien bei der Stiftung beschäftigt, sie habe einen Jahreshaushalt von ca. 4 Millionen Euro. Im Jahr 2023 wurden 12.500 Gäste beherbergt und 175 Projekte durchgeführt, die meisten einwöchig, aber auch langfristige. Für ihre Arbeit sei seine Stiftung mit einer Reihe von Preisen ausgezeichnet und als einer der wichtigsten Impulsgeber für die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen gewürdigt worden, schloss der Referent. Kreisau ist also ein inspirierender Ausnahmeort, wo sich die deutsche und polnische Geschichte unter positivem Vorzeichen begegnet sind, wo die Teilung Europas überwunden wurde und Europa wahrhaftig von unten gebaut und gelebt wird.

Nach dem Nachtmahl zeigte Dr. Bernhard Jungnitz Fotos von den Wandertagen in Schlesien 2023 des Heimatwerkes Schlesischer Katholiken und erläuterte sie historisch und kunstgeschichtlich.
Am nächsten Morgen fand eine Heilige Messe und ein ökumenischer Gottesdienst „in der Einheit um Christus“ versammelt in der Kapelle des Erbacher Hofs statt, für die evangelische Seite von Generalsuperintendent i. R. Martin Herche, für die katholische von Domkapitular Pfr. Krystian Burczek, dem 1. Vorsitzenden des Schlesischen Priesterwerks, gefeiert.

Der Görlitzer Sprengel der Generalsuperintendentin oder Regionalbischöfin Theresa Rinecker umfasst das Gebiet der schlesischen Kirche im heutigen Sachsen und Brandenburg, sie ist also in einem großen Gebiet mit 150.000 Christ:innen unterwegs und sitzt auch in der Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg und der Schlesischen Oberlausitz. Die Bischöfin begann ihren Vortrag mit dem Hinweis, dass es seit 2019 ein regelmäßiges ökumenisches Treffen der Bischöfe an Oder und Neiße gibt, das einen wertvollen Austausch und Lernprozess in Gang gesetzt habe und in diesem Jahr zum dritten Mal in Breslau stattfinden solle. Man pflege ein intensives Verhältnis auch zur Evangelischen Kirche (Augsburgischen Bekenntnisses) in Polen, die sich mit nur 30.000 Mitgliedern in einer extremen Diasporasituation befindet. In enger ökumenischer Zusammenarbeit werden auch die Christlichen Begegnungstage 2024 in Frankfurt (Oder) / Słubice auf den Weg gebracht. Erstes Projekt war ein Imagefilm als Appetizer, den es in sechs Sprachen mit Videobeiträgen aus allen sieben beteiligten Ländern (Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Ukraine) gibt. Der vormals schlesischen Kirche sei es ein Herzensanliegen, spürbar zu machen, was in dieser Herzregion Europas, wo sich die Zukunft des Kontinents entscheiden werde, täglich geschieht. Die Begegnungstage, die es seit 1991 gibt und die bisher in Prag, Bratislava, Dresden, Breslau und Budapest stattgefunden haben, werden immer größer. Sie sollen als ein Fest des Miteinanders der gewachsenen Christengemeinschaft auch in die Gesellschaft ausstrahlen und Kontrapunkt der Freundschaft und Verbindlichkeit in einer Welt sein, die durch Unterschiede und Konflikte geprägt ist. Daher das Motto aus dem Römerbrief: „Nichts kann uns trennen“. An positiven Effekten erhoffen sich die Trägerkirchen nicht nur Begegnung und Austausch, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Solidarität, sondern auch eine internationale mediale Wahrnehmung sowie die Aussendung von Friedensimpulsen nach Mittel- und Osteuropa. In Jahr 2024 sind fast 20 Kirchen aus 9 mittel- und osteuropäischen Ländern beteiligt. Es wird mit 4.000 Teilnehmern gerechnet. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch für Ältere soll es eine breite Palette an Angeboten geben mit Musik, Tanz, Taizé, Gesprächen, Bibelfrühstück, Performance, Open-Air-Gottesdiensten. Rund 150 Veranstaltungen sind in Vorbereitung. Mitten in Frankfurt ist ein gläserner Pavillon gemietet. An einer kilometerlangen Tafel soll gespeist werden. „Wir müssen als Christen stärker sagen, was wir glauben, wofür wir einstehen, was uns orientiert im Leben und tröstet im Sterben“, resümierte Bischöfin Rinecker.

Bei der anschließenden Podiumsdiskussion befragte Pfarrer Dr. Matthias Paul die drei Mitwirkenden nach ihren Erfahrungen, Hoffnungen und Befürchtungen im Hinblick auf Europa: Prof. Dr. Rainer Bendel erwähnte seine Eindrücke aus Schweden und Coimbra, seine Erinnerungen an 1989, als die Grenzkontrollen zur DDR weggefallen waren, und an seine Arbeit mit Jugendlichen aus Osteuropa, die sich für die europäische Freizügigkeit begeistern lassen. Man müsse in die Humanressourcen investieren und eine europäische Öffentlichkeit schaffen. Um die christlichen Werte, die sich aus vielfältigen Quellen und Traditionen speisen, zu bewahren, müsse man sie im Diskurs halten. Die Subjektivität des einzelnen Christenmenschen brauche Unterstützung, Subsidiarität und Herausforderung. Europa werde nicht ohne Solidarität auskommen. Daraus seien Handlungsoptionen zu entwickeln. Dr. Robert Żurek bekundete seine emotionale Reaktion auf die Neueröffnung der Altstadtbrücke in Görlitz, erwähnte ein für ihn eindrückliches Projekt mit Jugendlichen vom Balkan sowie die Geschichte der deutsch-polnischen Versöhnung. Es sei keine Selbstverständlichkeit, in Europa leben zu können. Weil viele Menschen heute mit Kirche nicht mehr viel anfangen können, müsse man neue Zugänge und eine neue Sprache für das dennoch vorhandene religiöse Bedürfnis finden. Bischöfin Theresa Rinecker bekannte sich zu ihrer frankophilen Einstellung. Europa sei ein existenzielles Thema, es gebe dazu keine gute Alternative. Als christliche Kirchen, befürchtet sie, „stehen wir vor ungeheuren Abbrüchen“. Um wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen, müsste man die Machtproblematik angehen, wichtige Themen seien Partizipation, Inklusion, neue Organisationsformen, um Jugendlichen die zentrale Erfahrung der Gemeinschaft zu ermöglichen. Trotz allen Misslichkeiten sei ihr jedoch nicht bange. „Das Wichtigste ist die Gemeinschaft der Gläubigen und dass Christus darin lebt.“

In der von Generalsuperintendent Herche moderierten Schlussrunde ging es um Eindrücke der Teilnehmer zum Tagungsverlauf, Evaluierungen, technische Unzulänglichkeiten, vermisste Aspekte. Im Wesentlichen zeigte sich das Auditorium zufrieden mit den anregenden, nachdenklich stimmenden Vorträgen, Diskussionen und Gesprächen. Für die nächste Tagung wurde das Thema „80 Jahre nach Kriegsende“ vorgeschlagen.

Akteure der Tagung „Schlesische Perspektiven auf Europa“ am17.-18. Februar 2024 in Mainz.

Text: Stefan P. Teppert