Der Anschluss des Hultschiner Ländchens an die Tschechoslowakei jährt sich zum 100. Mal

Vor fast genau hundert Jahren wurde der südliche Teil des oberschlesischen Kreises Ratibor gemäß Artikel 83 des Versailler Vertrages von Deutschland losgelöst und an die Tschechoslowakei angeschlossen.

Das nur ca. 300 km² große Gebiet, das wirtschaftlich und militärstrategisch keine größere Bedeutung hatte, wurde fortan als „Hultschiner Ländchen“ (tschechisch: Hlučínsko) bezeichnet. Als einziger Teil des jungen tschechoslowakischen Staates war es vor 1918 nicht von Wien, sondern von Berlin aus regiert worden. In vieler Hinsicht war und bleibt das Hultschiner Ländchen ein besonderer Landstrich. Unter Verwaltung Prags kam es, weil die große Mehrheit der Bewohner die nordmährische Variante des Tschechischen als Muttersprache sprach. Doch wirkte sich dieser Umstand nicht automatisch auf die nationale Identität der dortigen Bevölkerung aus. Viel wichtiger als die Sprache war die traditionelle mentale Bindung an Preußen und Deutschland. Die oberschlesischen Mähren fühlten sich im Deutschen Reich nicht als nationale Minderheit, vielmehr verstanden sie sich als slawischsprachiges Element der preußischen Gesellschaft.

Obwohl das Gebiet mit Ausnahme der Periode 1938–1945, als es kurzzeitig wieder deutsch wurde, seit 100 Jahren Teil der Tschechischen bzw. der Tschechoslowakischen Republik ist, werden die Bewohner des Hultschiner Ländchens von der Bevölkerung anderer Regionen des Landes immer noch als „Prajzáci“, also „Preußen“ bezeichnet und der öffentlich-rechtliche Radiosender Český Rozhlas Plus sprach in einem Beitrag zum 100. Jahrestag des Anschlusses dieses Gebiets an die Tschechoslowakei sogar von einem „Staat im Staat“. Viele Hultschiner haben tatsächlich eine sehr stark ausgeprägte regionale Identität und zeichnen sich durch großen Regionalstolz aus. Charakteristisch für diesen Teil Schlesiens ist überdies der starke katholische Glaube. Der kleine Landzipfel im Nordosten Tschechiens gehört in der säkularisierten Republik zu den wenigen Regionen, in denen man neue Kirchen sehen kann. Ähnlich wie in Polnisch-Oberschlesien ist im  Hultschiner Ländchen eine Organisation der deutschen Minderheit tätig und viele einheimische Bewohner besitzen seit den 1990er Jahren neben dem Pass ihres Wohnlandes auch den der Bundesrepublik Deutschland. In der kommunistischen Tschechoslowakei war die „unbequeme“ Gesinnung der Hultschiner aus nachvollziehbaren Gründen ein Tabuthema. Heute ist sie nicht nur Gegenstand soziologischer Untersuchungen. In einer interessanten Form setzt sich mit dem einstigen Tabu seit 2014 auch das Regionalmuseum in Hultschin/Hlučín in seiner modernen Dauerausstellung „Wer sind die Menschen im Hultschiner Ländchen“ (Kdo jsou lidé na Hlučínsku) auseinander.

Text: Dawid Smolorz
Bildquelle: Wikmedia Commons, Autor unbekannt, aus: NĚMCOVÁ, Veronika. Společnost na Hlučínsku mezi dvěma světovými válkami (Formování národní identity na příkladu školství). Praha, 2014.