Vor 100 Jahren wurde der Verlauf der deutsch-polnischen Grenze der Zwischenkriegszeit festgesetzt

Oberschlesien wurde geteilt

Sieben Monate nach der Volksabstimmung war im Oktober 1921 die Ungewissheit zu Ende.

Ein Ausschuss des Genfer Völkerbundes, der je aus einem Vertreter Belgiens, Brasiliens, Spaniens und Chinas bestand, traf die endgültige Entscheidung. Mitten durch ein seit Jahrhunderten zusammengewachsenes Land wurde eine Staatsgrenze gezogen, die in dieser Form dort nie existierte. Die Linie stellte einen Konsens dar, bei dem nicht nur der im Plebiszit ausgedrückte Wille der Einwohner, sondern auch wirtschaftliche Verbindungen und verkehrstechnische Fragen berücksichtigt wurden. Hätte der Grenzverlauf gänzlich dem Ergebnis der Volksabstimmung entsprochen, wären hunderte deutsche und polnische Exklaven entstanden. Damit hätte man den Verkehr und wohl auch das gesamte Wirtschaftsleben in der Region lahmgelegt.


Deutscher (dunkelblau) und polnischer (hellblau) Teil Oberschlesiens 1922-1939. Quelle: Grafik Leonard Wons, Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen.

Bei Deutschland verblieben 71 Prozent des Abstimmungsgebiets mit einer Bevölkerung von 1.116.500 Personen (54 Prozent). Polen wurde zwar ein kleinerer und weniger bevölkerungsreicher Teil der Region zugesprochen, doch konnte Warschau dennoch zufrieden sein. Denn viel wichtiger als die landwirtschaftlich geprägten mittel- und westoberschlesischen Gebiete war aus polnischer Sicht der Osten der Region mit seiner hochentwickelten Industrie. Von 67 Bergwerken befanden sich nach der Teilung 53 auf polnischem Gebiet. Auch die meisten Hüttenwerke und Kokereien lagen in dem polnisch gewordenen Teil der Region. Vor allem im Industriegebiet war die Grenzführung zum Teil kurios. Wohl gab es in der Zwischenkriegszeit keine zweite Region in der Welt, in der man eine Staatsgrenze mit der Straßenbahn oder unter Tage passieren konnte, oder wo ein Werktor als Grenzübergang fungierte.

Als die Oberschlesier am 20. März 1921 an die Abstimmungsurnen gingen, waren sie fest davon überzeugt, dass sie über die Zukunft ihrer Region entscheiden würden. Da aber die polnische Seite nach dem von Deutschland gewonnenen Plebiszit (ca. 60% zu 40%) ein für sich ungünstiges Urteil der internationalen Gremien erwartete, beschloss sie, durch einen bewaffneten Aufstand im Mai 1921 die endgültige Entscheidung in der Oberschlesien-Frage noch zu beeinflussen.

Seit der Übernahme der Deutschland und Polen zugesprochenen Teile des Abstimmungsgebietes Mitte 1922 existierte die Region bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 „in zweifacher Ausführung“: als deutsche Provinz Oberschlesien mit der Hauptstadt Oppeln und als von Kattowitz aus verwaltete polnische Woiwodschaft Schlesien.

Polnische Transitstraßenbahn der Linie Königshütte/Chorzów – Deutsch Piekar/Piekary Śląskie. Quelle: Nationales Digitalarchiv/Narodowe Archiwum Cyfrowe (www.nac.gov.pl).

Zurzeit bereitet das Kulturreferat für Oberschlesien am Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen eine Online-Ausstellung über die Periode vor, in der es parallel ein deutsches und ein polnisches Oberschlesien gab. Sie wird im kommenden Jahr, also 100 Jahre nach der Grenzziehung, auf dem Portal Copernico des Herder-Instituts veröffentlicht.

Text: Dawid Smolorz