In seinem Heimatkreis Rosenberg (Olesno) gilt der emeritierte Landwirt aus Ellguth (Ligota Oleska) als wandelndes Lexikon
In erster Linie ist er ein ausgewiesener Kenner der lokalen Geschichte.
Er hält Vorträge, schreibt Artikel, erstellt Bildungstafeln in deutscher und polnischer Sprache. Früher leitete er auch landeskundliche Fahrradtouren. Es gibt kaum ein Thema, für das er sich nicht interessieren würde und über das er in spannender Weise nicht erzählen könnte. Alle seine Aktivitäten verbindet meistens eines: In ihrem Mittelpunkt steht die Geschichte des Rosenberger Landes.
Oft wird Reinhold Kotwic gefragt, welche Schulen er absolviert hätte. Die Antwort überrascht: Seine Ausbildung musste er schon nach sieben Klassen Grundschule abbrechen. Warum klappte es mit den weiterführenden Schulen nicht? Die Familie hatte eine große Landwirtschaft und eine Baufirma. Alle Hände mussten arbeiten. Aber der Landwirt hat es nie bereut, weil er seinen Wissensdurst dennoch stillen konnte.
Grenzgebiet als Begegnungsraum
Als der Ellguther 1937 zur Welt kam, lag sein Heimatort in Deutschland – wohlgemerkt in einem besonderen Teil Deutschlands. Nicht nur waren in dieser nordöstlichen Gegend Oberschlesiens schon immer Deutsch und die regionale Variante des Polnischen zu Hause. Auch verlief nur einen Steinwurf von seinem Familienahaus entfernt, genau gesagt vier Kilometer nördlich, die Grenze zu Polen, die in diesem Abschnitt zu den ältesten und beständigsten Grenzen in Mitteleuropa gehörte. Aus Sicht der dort lebenden Menschen war sie in dieser Form schon immer da, bloß trennte sie je nach historischer Periode verschiedene Staaten voneinander. Vor dem Ersten Weltkrieg waren es Deutschland und das russische Zarenreich. Früher Böhmen, Österreich bzw. seit den Schlesischen Kriegen Preußen und die polnisch-litauische Adelsrepublik. Im 9. Jahrhundert soll dieselbe Linie sogar die nördliche Grenze des Großmährischen Reiches gebildet haben.
Drüben in Polen war vieles anders, auch heute verraten noch Architektur, Brauchtum und teilweise auch die Sprache, dass die Gebiete beiderseits der Grenze jahrhundertelang getrennte Wege gingen. Doch war die Gegend gleichzeitig ein Ort der Trennung und der Begegnung. Vielleicht liegt es Katowic auch deswegen so viel an dem Austausch mit Menschen, die kulturell anders geprägt wurden als er. „Ich gehe sehr gerne neue Bekanntschaften ein. Ich mag andere Kulturen. Ich suche immer nach Kontakt mit Menschen aus anderen Regionen und Ländern. Je mehr Kontakte es zwischen den Menschen gibt, je besser Menschen sich kennen, desto geringer ist die Gefahr von Konflikten. Aus jeder Kultur kann man schöpfen“, sagt er mit Überzeugung.
Als im Frühjahr 1945 Deutsch-Oberschlesien von der polnischen Verwaltung übernommen wurde, musste Kotwic, damals achtjährig, eine neue Sprache lernen. Polnisch hat er schnell und problemlos beherrscht und, wie er sich erinnert, konnte er sich bereits an seinem ersten Tag in der polnischen Schule sehr gut verständigen. Anders als viele Oberschlesier aus seiner Generation verlernte der Ellguther nie Deutsch, was auf zwei Faktoren zurückzuführen war. „Mit meinen Eltern sprach ich meistens weiterhin Deutsch und ich habe sehr viel auf Deutsch gelesen. Nach dem Einmarsch der Sowjets nahm ich aus der verwüsteten Schule in unserem Ort so viele Bücher nach Hause, wieviel ich nur tragen konnte. Überdies hörten mein Vater und ich in den ersten Nachkriegsjahren oft Radio RIAS aus Westberlin. Sobald aber unser Hund bellte, versteckten wir den Empfänger schnell im Schrank. Wir wussten ja, welche Konsequenzen es gehabt hätte, wenn man uns ertappt hätte. Meine Mutter wurde kurz nach der Übernahme Ellguths durch die polnische Verwaltung verhaftet, weil sie sich mit meinem Onkel im Garten auf Deutsch unterhalten hat“, so Reinhold Kotwic.
Ein ungelöstes Geheimnis bleibt, wieso die kommunistische Verwaltung der Volksrepublik Polen nie sein deutscher Vorname gestört hat. Während tausende Oberschlesierinnen und Oberschlesier, die Edeltraud, Günter, Dieter oder ähnlich hießen, sich nach 1945 an neue, polnische Vornamen gewöhnen mussten, durfte er seinen glücklicherweise behalten. Haben ihn die Beamten übersehen? Das weiß er nicht. Nicht übersehen haben sie auf den Fall den Familiennamen, der nach dem Zweiten Weltkrieg von Kottwitz zu Kotwic zwangspolonisiert wurde.
Leidenschaftlicher Heimatforscher hat noch einiges vor
Die Vergangenheit der nächsten Umgebung hat Kotwic schon immer interessiert, zu einer großen Leidenschaft wurde sie für ihn aber so richtig vor ca. 35 Jahren. Der entscheidende Impuls kam mit der Wende von 1989, als man nun auch offiziell über die wahre Geschichte Schlesiens sprechen und lesen durfte. Auch durfte man sie endlich in entpolitisierter Form weitervermitteln. In den 1990er Jahren initiierte der Landwirt aus Ellguth deshalb die Gründung des Freundeskreises für die Geschichte der Gemeinde Radlau (Koło Miłośników Historii Lokalnej). Damit wurde seinem Hobby ein institutioneller Rahmen verliehen. Und ihn selbst betrachtet man seitdem sozusagen als Hof-Historiker der lokalen Verwaltungen des Kreises Rosenberg.
Im Jahr 2007 war Kotwics Heimatgemeinde Radlau in aller Munde, als sie als erste Kommune Polens deutsch-polnische Ortsbeschilderung einführte. Es war kein unumstrittenes Vorhaben, doch für den Ellguther eindeutig die Einkehr der Normalität. „Solche Tafeln gibt es ja in vielen Regionen Europas. Die Freude war groß. Noch großer war sie aber, als wir im September 1989 das erste Treffen der offiziell noch nicht anerkannten deutschen Minderheit organisiert haben. Erstmals seit 1945 durfte man Deutsch sprechen und singen, ohne Schikanen befürchten zu müssen“, erinnert sich Reinhold Kotwic.
Der engagierte Rentner bleibt aktiv. Immer noch hält er Vorträge und anlässlich verschiedener Veranstaltungen präsentiert er eigens erstellte Bildungstafeln, die mit Wort und Bild u. a. von den Reitprozessionen im Rosenberger Land, den Mühlen am ehemaligen Grenzfluss Prosna und den lokalen Traditionen in den Orten der Gemeinde Radlau erzählen. Sein großer Wunsch wäre noch, einige historische Stätten, die zweifelsohne über touristisches Potenzial verfügen, für Besucher zugänglich zu machen. In der nächsten Umgebung seines Heimatortes nennt er gleich drei Beispiele: den Opferaltar der Trichterbecherkultur aus der Jungsteinzeit, die Überreste eines mittelalterlichen Grenzwachturmes, und die Stelle, an der im August 1944 eine V2-Rakete bei einem Testflug abstürzte. An das letztere Ereignis kann er sich sogar erinnern. Für die touristische Erschließung dieser Orte möchte sich Reinhold Kotwic, unabhängig von anderen Aktivitäten, noch einsetzten.
Text: Dawid Smolorz