Das Thema: Der Fluss

Die Umweltkatastrophe an der Oder überschattet die Europäische Literaturnacht in Wrocław (Breslau)

Es wurde auch an den berühmten schlesischen Dichter und Schriftsteller Paul Keller erinnert.

Niemand von den Organisatoren der Europäischen Literaturnacht 2022 in Wrocław (Breslau) konnte ahnten, wie aktuell das Thema der diesjährigen Ausgabe sein wird. Diese fand am 20. August 2022 unter dem Titel „Temat rzeka“ statt. „Temat rzeka“ ist hier doppeldeutig, denn außer der wortwörtlichen Bedeutung „Thema Fluss“ ist das im Polnischen eine Redewendung und bedeutet so viel wie „ein weites Feld“, „man könnte stundenlang drüber reden“.

Als die Vorbereitungen vor Monaten begannen, wusste ja niemand, wie aktuell das Thema durch die Oder-Naturkatastrophe wird. Als in dieser Nacht Abschnitte aus verschiedenen Bücher von bekannten Schauspielern vorgelesen wurden, dachten alle nur an die Oder. Plötzlich wurde das Thema des zerstörerischen Einflusses der Menschen auf die Natur top aktuell. Die Ereignisse im Zusammenhang mit der Umweltkatastrophe an der Oder haben dem Thema eine zusätzliche Dimension verliehen. Die Realität holte die Literatur ein.

Auch ein anderer Anlass hat besonders zum Nachdenken gezwungen. An demselben Tag wurde an den 90. Todestag des schlesischen Volksdichters und Schriftstellers Paul Keller erinnert (er starb am 20. August 1932). Paul Keller wurde 1873 in Arnsdorf (heute Milikowice) geboren. Er arbeitete als Lehrer in Jauer (Jawor), Schweidnitz (Świdnica) und Breslau (Wrocław) und schrieb Romane, die in Schlesien sehr populär waren (sie wurden in Auflagen von über hunderttausend Stück verkauft). Seine größte Popularität erlangte Keller mit seinem 1902 erschienenen Roman „Waldwinter“, der zum echten Bestseller und später zweimal verfilmt wurde (1936 und 1956).

Paul Keller verdanken wir auch eine der schönsten Beschreibungen der Oder. In seinem amüsanten Werk „Das Märchen von den deutschen Flüssen“ aus dem Jahr 1912 beschreibt der Autor einen Ball, den die Gräfin Elbe organisieren wollte. Es stellte sich heraus, dass sie ein großes Problem hatte: unter der gesellschaftlichen Elite der Flüsse waren fast nur Frauen. Außer dem König Rhein und dem Main erschien auf dem Ball fast ausschließlich das schöne Geschlecht – die Weser, die Oder, die Donau, die Memel und natürlich die Weichsel, denn seine Majestät, König Rhein, bemühte sich immer gute nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen.

Und so beschrieb Paul Keller die Oder: „Die Oder ist ein edles Bauernweib. Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlestaub liegen manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus. Zu Grünberg nippt sie ein gutes, bescheidenes Haustränklein. Die bei ihr wohnen, sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus.“

Nach den vielen Jahrhunderten, wo die Oder ihren Kindern „Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus brachte“, kommt jetzt die Zeit, wo die Kinder etwas für ihre Mutter machen müssen. Wie sehr die letzte Katastrophe (Juli-August 2022) das Leben in und an der Oder vernichtet hat, wird sich erst herausstellen. Tausende Tonnen von toten Fischen wurden von der Oder rausgeholt und es wird Jahre dauern, bis das Leben in die Oder zurückkehrt.

Die Katastrophe zeigte die Inkompetenz polnischer Behörden und die Unfähigkeit, schnell zu reagieren, Probleme zu lösen, mit den Nachbarn zusammenzuarbeiten, eine transparente Informationspolitik zu betreiben. Es ist dringend notwendig, sich der Problematik der Oder zuzuwenden, eine kluge Flusspolitik zu beginnen und möglichst schnell handeln. Man soll nicht vergessen, dass es zuerst die Flüsse gab und dann die Menschen.

Text und Fotos: Małgorzata Urlich-Kornacka