Günter Gerstmann wäre 2023 90 Jahre alt geworden

Der Literaturwissenschaftler war bedeutender Kenner der schlesischen Literatur des 20. Jahrhunderts

Besonders verdienstvoll hat sich Gerstmann in der Vermittlung von Carl Hauptmann und Gerhart Pohl gemacht.

Günter Gerstmann wurde am 19. Juli 1933 in Weißstein im Kreis Waldenburg (heute Wałbrzych), Niederschlesien, geboren. Bis zum Zusammenbruch besuchte er die Bergland-Oberrealschule in Waldenburg. 1947 musste er seine Heimat verlassen. Apolda in Thüringen wurde im Sommer 1947 seine neue Heimat. Günter Gerstmann hatte schon als Oberschüler Kontakt zu Schriftstellern, unter anderem auch zu Thomas Mann und Magarete Hauptmann, der Witwe des Literaturnobelpreisträgers Gerhart Hauptmann, und so war sein beruflicher Weg vorbestimmt.

Günter Gerstmann (1933-2020). Foto: Ullrich Junker.

Widmung von Margarete Hauptmann für Günter Gerstmann:

Herrn Oberschüler
Günter Gerstmann
mit herzlichem Dank für
sein ergreifendes Gedicht
unverlierbare Sendung
und für das freundliche
Meingedenken.

Margarete Hauptmann

Ab 1957 studierte er Germanistik und Geschichte an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Auf den Bahnreisen von Greifswald nach Apolda zu den Eltern unterbrach Gerstmann die Reisen in Berlin und besuchte immer wieder den Schriftsteller Gerhart Pohl. Pohl hatte Gerstmann gebeten in West-Berlin zu bleiben, da er die Gefahr einer Verfolgung durch die Staatssicherheit voraussah. Im Herbst 1961 wurde er vom DDR-Staatssicherheitsdienst verhaftet. Das Bezirksgericht Rostock verurteilte ihn wegen „Hetze und Propaganda“ zu sieben Jahren Zuchthaus; 1963 wurde das Urteil durch dasselbe Bezirksgericht in drei Jahre Gefängnis umgewandelt. Im Anschluss an seine Entlassung setzte er an der Universität Jena sein Studium mit theologischen Vorlesungen fort.

Günter Gerstmann schrieb u. a. Arbeiten über Armin Müller, Hanns Cibulka, Walter Werner, Carl Hauptmann und Gerhart Hauptmann. In der DDR konnte Günter Gerstmann das, was er zu sagen hatte, nur in Ansätzen darbieten. Nach der politischen Wende von 1989/90 war es ihm endlich möglich, sein Wissen über schlesische Dichter des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts in Büchern, Aufsätzen und Vorträgen weiterzugeben. Im Vordergrund stand dabei immer wieder die Würdigung des literarischen Werkes der Brüder Hauptmann. Er gehört zu den Literaturwissenschaftlern, denen es zu verdanken ist, dass Carl Hauptmann, der lange weitgehend im Schatten seines berühmten jüngeren Bruders Gerhart stand, Anerkennung erfuhr.

Mit Gerhart Pohl (1902-1966), mit dem ihn eine Freundschaft verband, korrespondierte er schon als junger Mann. Er gab dessen Buch „Bin ich noch in meinem Haus?“ (1. Auflage: Herbst 1953) über „Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns“ im Jahre 2002 als Reprint heraus. Einem weiteren Nachdruck (2004) fügte er Arbeiten Gerhart Pohls zum Werk Gerhart Hauptmanns bei, verlegt durch die Stiftung Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Dieses Buch versah Günter Gerstmann an der Universität Jena mit einem kenntnisreichen Nachwort.

Die Wiederveröffentlichung des bekannten Buches „Bin ich noch in meinem Haus?“ ist äußerst verdienstvoll. Es handelt sich um ein bewegendes zeitgeschichtliches Zeugnis vom Sterben des großen schlesischen Dichters, durch das ihm die Vertreibung aus seiner Heimat erspart blieb. Gerade weil heutzutage ganz andere Darstellungen verbreitet werden, ist es wichtig, dass Gerhart Pohls erschütterndes Buch in Erinnerung bleibt. Das ist das besondere Verdienst Günter Gerstmanns. Überhaupt kann man sagen, dass er sich des Schaffens Gerhart Pohls intensiv annahm. Um den aus Trachenberg (heute Żmigród) stammenden Schriftsteller wäre es ohne Gerstmanns verdienstvolle Bemühungen (Vorträge, Publikationen, Zeitungsbeiträge) still geworden.

Ab 1972 war Gerstmann freier Literaturkritiker. 1991 richtete er die Zweigstelle der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft Berlin in Jena ein und übernahm deren Leitung. Im Wangener Kreis – Gesellschaft für Literatur und Kunst „Der Osten“ e.V. war Günter Gerstmann ein langjähriges Jury-Mitglied des Eichendorff-Literaturpreises.

Günter Gerstmann starb im Jahre 2020 in Jena. Er gehörte zu denen, die dazu beitrugen, dass Schlesien, aber auch Thüringen, beides kulturgeschichtlich reiche deutsche Landschaften, wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wurden.

Text und Bilder: Ullrich Junker
Erstabdruck in „Schlesien heute“ 9/2023