Die letzten Kriegsschäden am Breslauer Rathaus behoben – mit Überraschungseffekt

Die Figur des Stadtschreibers aus dem 19. Jahrhundert hat ihren Kopf wieder bekommen

Die Bewohner der Stadt sehen im alten-neuen Gesicht den Ehrenbürger 2020.

Die Südfassade des Rathauses in Breslau/Wrocław wird oft als “Stadtchronik” bezeichnet. Die an der Wende des 15./16. Jahrhunderts entstandenen humorvollen Szenen und Genreszenen aus dem Alltag des Bürgertums sagen uns viel über das alte Leben der Stadt. Ursprünglich sollte die Südseite des Rathauses zusätzlich mit zwölf Figuren geschmückt werden – es wurden dafür sogar Sockel und Baldachine vorbereitet, aber aus unbekannten Gründen ist es nicht dazu gekommen. Damals wurden die Stellen durch provisorische Wandgemälde ersetzt.

Zu der Idee der Figuren ist man in den 1880er zurückgekehrt. Carl Lüdecke, der damalige Stadtbaurat, der für die Renovierung des Rathauses verantwortlich war, schlug vor, die Figuren als Vertreter der schlesischen Stände darzustellen. Und so wurde die endgültige Entscheidung getroffen. Es ist nicht bekannt, wer auf die Idee kam, den Figuren die Gesichtszüge der damals amtierenden Personen, der Mitglieder des Stadtrates und des Stadtbaurates, zu geben. Die Tatsache ist, die Idee kam gut an und so entstand im 19. Jahrhundert die „Galerie der Auserwählten“ oder „Pantheon der Verdienten der Stadt“. Hier ist die Elite der Stadt versammelt.

In den Steinfiguren auf dem Rathaus können wir bis heute berühmte Persönlichkeiten aus der Geschichte der Stadt Breslau erkennen. Von links betrachtet sind es:
1. der Bürger (Heinrich Korn – ein bekannter Verleger und Stadtältester),
2. die Bürgerin (Gattin von Heinrich Korn),
3. der Mönch (in dieser Form verewigte man den Stadtbaurat und Verehrer der Gotik Richard Plüddemann),
4. der Kaufmann (Handelskammersyndikus Philip Wolfgang Eras),
5. der Baumeister (der Ideengeber der Galerie und Baurat Carl Lüdecke selbst),
6. der Bote (Bürgermeister und Ehrenbürger der Stadt Maximilian von Ysselstein),
7. der Schöffe (Stadtbaurat Aleksander Kaumann),
8. der Ratsherr (Oberbürgermeister Ferdinand Julius Ernst Friedensburg),
9. der Stadtschreiber (Bürgermeister und Ehrenbürger der Stadt Gustav Dickhuth),
10. der Stadtwächter (hier kennen wir keine Vorlagen) und zwei Figuren über dem Eingang zum Schweidnitzer Keller:
11. der Zecher und
12. das alte Weib – hier wird vergebens unter der Elite der Stadt gesucht).

Alle, die namentlich genannt wurden, konnten ruhig nach Horaz wiederholen: „Exegi monumentum aere perennius“ (Ich habe mir ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz), denn es waren wirklich die, die durch ihre Tätigkeit in die Geschichte der Stadt eingingen. Für diese eigentümliche „Galerie der Auserwählten“ waren zwei Bildhauer verantwortlich: Christian Behrens (8 Figuren) und Otto Rassau, der 4 Figuren fertigte: einen Mönch, einen Kaufmann, einen Baumeister und einen Stadtschreiber.

Zwei Figuren wurden während des Zweiten Weltkrieges beschädigt. Beide stellten Bürgermeister und Ehrenbürger der Stadt dar – der Bote (Maximilian von Ysselstein) verlor seine rechte Hand, in der er eine Rolle hielt und der Stadtschreiber (Gustav Dickhuth) verlor den Kopf, die Beine und die rechte Hand mit einer Feder. Bei der letzten Renovierung des Rathauses wurde beschlossen, die Beschädigungen aufzuheben und dem Stadtschreiber wieder den Kopf einzusetzen. Dazu brauchte man aber unbedingt alte Vorlagen. Und so wurde mit der Suche nach dem alten Foto des Bürgermeisters und Ehrenbürgers der Stadt aus dem Jahr 1892 – Gustav Dickhuth – angefangen. Als die Mitarbeiter der Städtischen Museums das Foto fanden, machten sie vor Verwunderung große Augen, weil die dargestellte Person ihnen ganz bekannt vorkam. „Aber das sind doch Sie, Herr Direktor“ – sagte einer der Mitarbeiter zum jetzigen Direktor des Museums, Dr. Maciej Łagiewski. Es stellte sich heraus, dass Łagiewski fast identisch mit dem damaligen Bürgermeister ist! Und als der Bildhauer Tomasz Rodziński die Figur des Stadtschreibers schuf, ging in der Stadt das Gerücht um, es handle sich um die Person des Museumsdirektors. Aber man kann auch diese Version annehmen: Dr. Maciej Łagiewski hat viel für Wrocław getan und ist seit 2020 – ähnlich wie sein verdienter Vorgänger – Ehrenbürger der Stadt (SILESIA News berichtete). Der Jüngste im „Pantheon der verdienten Persönlichkeiten der Stadt“ an der Südseite des Rathauses!

Text und aktuelle Fotos: Małgorzata Urlich-Kornacka