Buchempfehlung: “Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen” von Maya Lasker-Wallfisch

Die Tochter der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch erzählt ihre persönliche und Familiengeschichte

Ein ungewöhnliches Leben im Zeichen eines transgenerationellen Traumas.

„In meinem Elternhaus wurden zwei Sprachen gesprochen: Musik und Deutsch. Ich beherrschte keine von beiden. Damit fing das Problem an.“ Mit diesen Worten eröffnet Maya Lasker-Wallfisch, geb. 1958 in London, ihr Buch. Doch als das Hauptproblem erweist sich in ihrem Elternhaus das Schweigen: das Schweigen über die Geschichte ihrer jüdischen Familie in Breslau, die traumatischen Erfahrungen in Nazi-Deutschland, das Schweigen über die Deportation und Ermordung ihrer Großeltern sowie über das Leiden ihrer Mutter und Tante Renate in den Konzentrationslagern Auschwitz und Bergen-Belsen.

Das Schweigen hat einen Grund. Ihre Mutter Anita wünscht sich für ihre Kinder ein „normales“ Leben, “Normalität” ist eins ihrer Lieblingsworte. Doch Maya entfernt sich vom normalen Leben immer weiter. Als 13-jährige findet sie zufällig in einer versteckten Mappe verstörende Fotos: mit ausgemergelten KZ-Häftlingen und Bulldozern, die Leichenberge zur Seite schieben. Daneben britische Soldaten, die das Lager Bergen-Belsen befreit haben. Der Schock ist so groß, dass sie sich nicht traut, ihre Mutter darauf anzusprechen. Zu stark wirkt das Tabu, das unausgesprochen in der Familie existiert. Maya wird ständig von Gefühlen der Angst und Unsicherheit begleitet, kommt sich ständig als bad girl vor und revoltiert als Teenager gegen alles. Ihre Eltern sehen hilflos zu, wie sie immer wieder in den verschiedenen Schulen versagt, schließlich von der Schule fliegt und in Drogensucht und Haltlosigkeit abstürzt. Es folgen Schulden, Kriminalität und eine Flucht nach Jamaika, bei der sie fast stirbt.

Im letzten Moment findet sie mit Hilfe ihrer Mutter zurück nach England, unterzieht sich erfolgreich einer Entzugstherapie und arbeitet danach selbst als Suchttherapeutin, später als psychoanalytische Psychotherapeutin. Im entscheidenden Moment ihres Lebens beschließt sie das Schweigen zu überwinden. Sie beginnt zu schreiben. In den Briefen an ihre von den Nazis ermordeten Großeltern erzählt sie ihnen, was mit ihren drei Töchtern Marianne, Renate und Anita seitdem passierte und setzt so ihre Familie wieder zusammen.

Ihre Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte hat vor allem selbsttherapeutischen Charakter. “Ich dachte, wenn ich versuche, eine Beziehung zur Vergangenheit herzustellen, würde ich in der Gegenwart besser zurechtkommen”, schreibt die Autorin. In ihrem Leben ist ja vieles schiefgelaufen. Davon schreibt sie in ihrem Buch ehrlich und erschreckend schonungslos. Anfangs schiebt sie ihr Scheitern darauf, dass ihre Mutter – als Profi-Musikerin ständig auf Reisen – des Öfteren nicht zu Hause war. Sie fühlt sich unverstanden, ungeliebt und ständig schuldig, ohne zu wissen warum. Ihr um fünf Jahre älterer Bruder Raphael ist das Vorzeige-Wunderkind, das die musikalische Begabung geerbt hat, sie – das “Problemkind”. Aber das ist nur die Oberfläche einer ganz anderen, tiefer gehenden Geschichte – der des Holocaust. Dass ihre Probleme mit sich und der Welt das Echo des transgenerationalen bzw. generationenübergreifenden Traumas sind, das ihr ganzes Leben überschattet hat, versteht sie erst viel später und beschäftigt sich seitdem auch wissenschaftlich wie praxisorientiert mit dieser Problematik.

Heute ist Maya Lasker-Wallfisch eine international anerkannte Trauma-Expertin in London. Durch die Arbeit nach dem Buch hat sie sich nicht nur von einem belastenden Erbe und dem Trauma ihrer jüdischen Familie befreit, sondern auch ihre eigene Identität und Verbundenheit mit der deutschen Kultur gefunden. Ausgestattet seit Neuestem mit der deutschen Staatsbürgerschaft möchte sie nach Berlin umziehen, um durch das Leben in Deutschland ihre Wurzeln besser kennen und verstehen zu lernen.

Text: Agnieszka Bormann

Maya Lasker-Wallfisch: Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen, 255 Seiten, 24 Euro, erschienen 2020 im Insel Verlag Berlin. Entstanden ist das Buch in Zusammenarbeit mit dem britischen Historiker Taylor Downing. Aus dem Englischen von Marieke Heimburger.

ISBN 978-3-458-17847-7

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