Warum gibt es in Brieg/ Brzeg an vielen Ziegelbauten Scheinfenster?

Scheinfenster sind ein eigentümliches Beiwerk Brieger Ziegelbauten

Ein Spaziergang von wenigen Minuten durch die Brieger Altstadt genügt, um einige dieser blinden Fenster zu entdecken.

Warum gibt es in Brieg/ Brzeg an vielen Ziegelbauten Scheinfenster? Warum wurden sie eingefügt? Welchen Stellenwert haben sie heute? Der junge Historiker Marek Pyzowski kennt die Antworten.

In vielen Städten gibt es Orte oder Objekte, die durch ihre Einzigartigkeit und durch ihren Wiedererkennungswert auffallen. Zweifellos ist das Schloss der Schlesischen Piasten in Brieg/ Brzeg solch ein Objekt. Hinsichtlich seiner historischen, architektonischen und künstlerischen Wertigkeit zählt es zu den wertvollsten Baudenkmälern in diesem Teil Europas. Gleich danach kommen andere wichtige Bauwerke und Orte wie das Rathaus, die Kirchen, die Piastenschule, die städtischen Parkanlagen, Villen und Ziegelbauten. Man könnte versucht sein anzunehmen, dass Ziegelbauten in einem Ort mit solcher Fülle an Architekturdenkmälern bei Besuchern auf kein größeres Interesse stoßen würden. Weit gefehlt! Einige von ihnen ziehen uns in ihren Bann, fallen auf und bleiben dauerhaft im Gedächtnis. So sind für Besucher der Stadt die Ziegelbauten mit blinden Fenstern von besonderem Interesse.

Um zu erfahren, warum sich in Brieg an einigen Gebäuden Scheinfenster befinden, muss man einige Jahrhunderte ins Mittelalter zurückgehen. Im 14. und 15. Jh. hatten gemauerte Gebäude im Wesentlichen eine öffentliche oder sakrale Bestimmung oder sie gehörten zur Residenz oder dienten Verteidigungszwecken. Dazu zählten u.a. das Rathaus, die Kirchen und Klöster, das fürstliche Schloss, die Stadtmauern und -Tore. Ziegelbauten, die privaten Wohnzwecken dienten, waren unerschwinglich teuer – das konnten sich nur wenige leisten. Nur vermögende Einwohner in den vornehmsten Lagen wie am Ring und in Hauptstraßen, die auf Stadttore zuführten, (dazu gehören die heutige ul. Dzierżonia/ Paulauer Str., Reja/ Oppelner Str., Chopina/ Wagner-Str. und Zamkowa/ Burgstr.) konnten solche Gebäude aufführen. Die meisten Brieger wohnten im Mittelalter vermutlich in Häusern aus Holz oder aus Fachwerk.

Die aus Ziegel errichten Gebäude im mittelalterlichen Brieg trugen Giebelschmuck und wiesen oft nicht mehr als zwei Stockwerke auf. Sie hatten auch nur wenige Fenster, die oft nur kleine Öffnungen in der Gebäudefassade ausmachten. Der Besitz eines großen Fensters war mit beträchtlichen Kosten für die Verglasung verbunden – was sich nur wenige leisten konnten. Daher wurden an Stelle von Glas eher ausgespannte und getrocknete Fischblasen verwendet, Rinder- und Kalbsdärme, Stoff- und Holzverkleidungen.

Im Zusammenhang mit den hohen Kosten, die der Besitz eines Fensters bedeutete, kamen die Scheinfenster als Fassadenschmuck in Mode. Diese Fälschungen waren zugemauerte Nischen im Mauerwerk in Form eines Bogens oder Fensters – besonders charakteristisch für die Gotik. Sie wurden als Scheinfenster gestaltet und bemalt. Die Kosten waren um ein Vielfaches geringer als der Bau eines richtig großen verglasten Fensters.

Ein Fenster war ein fester Bestandteil der Architektur, aber für viele Leute zu teuer und daher unrealistisch. Deshalb wurden Fälschungen angefertigt, die tatsächlich zu einer Illusion führten. Diese Illusion ergänzte die Architektur und dank der geschickten Verwendung von Schmuckmotiven waren sie ihre Fortführung mit anderen Mitteln. Sie trugen wesentlich zur Symmetrie und Ästhetik der Fassade bei.

Als sich in neuerer Zeit die Kosten für die Verglasung reduzierten, wurden Fenster etwas Alltägliches. Daher entfiel der Grund, die Schmuckfassaden mit einer Vielzahl von Nachbildungen zu versehen. Das heißt aber nicht, dass Scheinfenster in Vergessenheit gerieten. In den folgenden Epochen wurden ebenfalls Scheinfenster gestaltet, aber vor allem aus ästhetischen Gründen, um die Symmetrie einer Fassade zu wahren, wo es aus unterschiedlichen Gründen nicht vorgesehen war, eine traditionelle Fensteröffnung einzubauen.

Die mittelalterlichen Scheinfenster kamen in den folgenden Jahrhunderten jedoch aus der Mode. Sie wurden unter neuem Putz verdeckt, und die gotischen Merkmale wurden dem Stil der neuen Zeit angepasst. Nicht selten wurden an Stelle von Imitationen richtige Fensteröffnungen ausgeschlagen. Dies führte dazu, dass mittelalterliche Dekorationen unwiederbringlich zerstört wurden und unter Umbauten späterer Jahrhunderte verschwanden, – und niemand wusste mehr, dass sie einmal existierten.

Dies alles änderte sich bei grundlegenden Renovierungsarbeiten Brieger Baudenkmäler gegen Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jh. Unter alten Putzschichten entdeckte man original erhaltenes mittelalterliches Ziegelwerk und reichlich Fragmente von gotischem Fassadenschmuck. Einige waren so gut erhalten, dass sie noch den typischen mittelalterlichen Farbschmuck aufwiesen. Man beschloss, die am besten erhaltenen Schmuckelemente durch konservatorische Umbaumaßnahmen sichtbar zu machen. Heute sind diese Restaurierungen eine Zierde der Altstadt – und verleihen ihr den Charakter eines Originals.

Zweifellos gibt es im Brieg noch viel zu entdecken. Der Zustand eines Teils der Altstadtgebäude erfordert sorgfältige konservatorische Arbeit. Es ist sehr wohl möglich, dass bei Renovierungsarbeiten an Gebäuden, die u. a. in der ul. Chopina/ Wagner-Str. und der ul. Młynarska/ Mühlstraße stehen, weitere Reste mittelalterlicher Ziegelbauten entdeckt werden, von denen bisher nichts bekannt ist. Wichtig ist, dass sich die Bewohner des Wertes dieses Bauerbes bewußt werden, dass sie es pflegen und dass die Gemeinde und der Stadtrat die konservatorischen Arbeiten nach Möglichkeit unterstützen.

Zwei Scheinfenster aus dem späten 15. Jhd. im ersten Stock des Rathaus-Nordflügels. Bei Renovierungsarbeiten wurden einige dieser Fälschungen entdeckt. Die Fensterimitationen sind Überbleibsel des mittelalterlichen, gotischen Sitzes der Stadtverwaltung – vor dem Umbau im Renaissancestil in der zweiten Hälfte des 16. Jh.
Das wohl charakteristischste Gebäude mit Scheinfenstern befindet sich auf dem Brieger Ring – Die Tuchhallen Nr. 5 (hinter dem Rathaus). Es handelt sich um das Gebäude der ehemaligen Tuchhallen aus dem 15. Jh., das ursprünglich an der Ostseite keine Fenster hatte. Jedes Stockwerk wies je drei Fenster-Imitationen auf. Geschlossene Fenster waren aufgemalt. Das Zwischengeschoss war mit einem Fries aus einem drei- und vierblättrigen Maßwerkmotiv verziert. In späteren Jahrhunderten wurden jeweils zwei offene Fenster dort eingefügt, wo sich vorher Fälschungen befanden. Die späteren tatsächlichen Fensteröffnungen wurden nicht sehr gut ausgeführt, deshalb entsteht heute der Eindruck, als handele es sich um Fenster in den Fenstern.
Spätgotische Fälschung eines geschlossenen Fensters in Form eines Scheinbogens – entdeckt an der Fassade eines klassizistischen Ziegelbaus am Ring Nr. 7.
Zur Schau gestellte Relikte im ersten Stock eines mittelalterlichen Ziegelbaus am Ring Nr. 2. Man sieht zwei rechtwinklige und eine Spitzbogen-Fälschung. Die Stockwerke sind durch zwei Friese voneinander abgesetzt.
Zur Schau gestellte Relikte eines mittelalterlichen Ziegelbaus auf der Höhe des ersten Stockwerks in der ul. Dzierżonia/ Paulauer Str. 10. Man sieht sowohl Blendfragmente als auch Schmuckfriese.
Vier Scheinfenster befinden sich in der Fassade des Gebäudes in der ul. Dzierżonia/ Paulauer Str. 1-3. Diese Imitationen stammen nicht aus dem Mittelalter. Dies ist ein Beispiel für die Verwendung von Scheinfenstern im 18. Jh., um die Fensterachsen und die Stockwerksymmetrie zu wahren.

Text und Bilder: Marek Pyzowski
Übersetzung: Volker Pfeiffer