Ostoberschlesier und das Dritte Reich
Das Dritte Reich betrieb in den besetzten und einverleibten Gebieten eine nationalistische Nationalitätenpolitik.
In deren Rahmen waren die Behörden bestrebt, die nationale Zugehörigkeit bzw. Gesinnung der Bevölkerung mehrerer, meist multikultureller Regionen Mitteleuropas zu ermitteln. Diesem Ziel sollte die Deutsche Volksliste (DVL) dienen. In den annektierten Gebieten der Zweiten Polnischen Republik, hatte ein nicht geringer Anteil der Einwohner tatsächlich deutsche Wurzeln oder deutsche Gesinnung. In speziellen Verfahren wurden ihre ethnische Abstammung und ihr politisches Verhalten vor dem September 1939 überprüft. Auf dieser Grundlage wurde auch die Bevölkerung des in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden Ostoberschlesien in vier Gruppen (Abteilungen) gegliedert.
In die erste wurden frühere polnische Staatsangehörige aufgenommen, die vor Kriegsausbruch aktive Mitglieder deutscher Minderheitenorganisationen gewesen waren. Abteilung zwei war grundsätzlich für jene Oberschlesier vorgesehen, die in polnischer Zeit Bindungen zur deutschen Sprache und Kultur gepflegt, sich aber politisch nicht engagiert hatten. In die Abteilung drei wurden vor allem Menschen eingetragen, die ihre ethnische Zugehörigkeit auf regionaler Ebene definierten und als „wiedereindeutschungsfähig“ eingestuft wurden. In die vierte Abteilung der Deutschen Volksliste wurden jene Ostoberschlesier aufgenommen, die aus Sicht der nationalsozialistischen Verwaltung als stark polonisierte Deutsche galten und vor dem 1. September 1939 mit den polnischen Behörden aktiv mitgearbeitet hatten. Die Angehörigen der Abteilungen 1 und 2 erhielten automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, Einwohner mit dem Volkslistenausweis 3 erhielten zwar auch die deutsche Staatsangehörigkeit, diese Entscheidung konnte jedoch widerrufen werden. Personen, die in die Abteilung 4 eingetragen wurden, wurde nur in Ausnahmefällen die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. In Ostoberschlesien waren alle früheren polnischen Staatsbürger verpflichtet, einen Antrag auf die Aufnahme in die Deutsche Volksliste zu stellen. Wer sich weigerte, musste mit einer Aussiedlung ins Generalgouvernement oder Einweisung in ein Konzentrationslager rechnen. Bis Ende 1943 wurden ca. 1,3 Millionen Oberschlesier in die DVL aufgenommen: knapp 93.000 in die Abteilung 1, ca. 209.000 in die Abteilung 2, 951.000 in die Abteilung 3 und knapp 51.000 in die Abteilungen 4. Nur ca. zehn Prozent der Einwohner der früheren Wojewodschaft Schlesien erhielten oder beantragten keinen Volkslistenausweis.
Die Eintragung in die DVL zog Privilegien und Pflichten nach sich. Die wichtigste Pflicht, die sich aus der Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit ergab, war der Dienst bei der deutschen Wehrmacht. Auf der Grundlage dieser Regelung wurden außer den ethnischen Deutschen und deutsch gesinnten Oberschlesiern auch zehntausende Inhaber des DVL-Ausweises 3, also Menschen ohne deutsche Identität, in deutschen Uniformen an den Fronten des Zweiten Weltkrieges eingesetzt. Die polnische Exilregierung und die Kirchenverwaltung in Ostoberschlesien riefen dazu auf, die Eintragung in die Deutsche Volksliste nicht zu verweigern. In der Überzeugung, Deutschland werde den Krieg früher oder später verlieren, wollte man so das slawische bzw. polnische Element vor der Aussiedlung und anderen Schikanen der Nationalsozialisten schützen.
Nach der Übernahme Oberschlesiens durch die polnische Verwaltung im Winter/Frühjahr 1945 waren sich die Behörden dessen im Klaren, dass die Eintragung in die deutsche Volksliste oft unter Druck oder Zwang erfolgt hatte. Daher brauchten die Inhaber der DVL-Ausweise 3 und 4 meistens nur eine Loyalitätserklärung gegenüber dem polnischen Staat abzugeben, um wieder als polnische Staatsangehörige zu gelten und nicht ausgesiedelt zu werden. Jene Oberschlesier, die in die Abteilung 2 eingetragen worden waren, mussten – um der Aussiedlung zu entgehen – im Rahmen gerichtlicher Rehabilitierungsverfahren ihre polnische Nationalität unter Beweis stellen. Angehörige der Abteilung 1 wurden nach 1945 fast ausnahmslos in eine der Besatzungszonen Deutschlands ausgesiedelt. Die Inhaber der Volkslistenausweise 1 und 2 (sowie ihre Nachkommen) können heute im Rahmen des Verfahrens zur Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik erhalten. Jene Oberschlesier bzw. ihre Nachkommen, die in die Abteilung 3 eingetragen worden waren, haben diese Möglichkeit nicht.
Text: Dawid Smolorz