Impressionen vom Schlesischen Nachtlesen 2022

Am 8.-9. April 2022 hat das beliebte Literaturfest zum 11. Mal in Görlitz-Zgorzelec erfolgreich stattgefunden

Ein kurzes Resümee mit Bildern.

Das Schlesische Nachtlesen 2022 ist Geschichte. An 13 charaktervollen Orten – bekannten, neuen, teilweise ungewöhnlichen – trugen bekannte Persönlichkeiten Texte vor, die Görlitz, Schlesien, die Lausitz und das deutsch-polnische Neben- und Miteinander thematisieren. Bei gutem, teilweise wechselhaftem Aprilwetter flanierten die Besucher von Ort zu Ort und lauschten kurzen, etwa 15-minütigen Lesungen. Als Vorlesende waren Menschen zu erleben, die sich im kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Bereich auf unterschiedliche Art und Weise für die Stadt und Region einsetzen.

Neue Bücher feierten Premiere beim Schlesischen Nachtlesen

Das Schlesische Nachtlesen bot dieses Jahr eine Bühne für drei Buchpremieren. Nach fast 100 Jahren wurden die Tagebücher der Fürstin Daisy von Pless mit dem Titel „Tanz auf dem Vulkan wieder verlegt und wurde durch die Initiatorin der neuen Ausgabe, Ina Kwiatkowski, vorgelesen. Daisy von Pless (1873-1943) ist eine der schillerndsten und bedeutendsten Figuren der schlesischen Geschichte. Durch die Heirat mit Hans Heinrich XV. Fürst von Pless, Graf von Hochberg, wurde sie zur Schlossherrin auf Fürstenstein (heute Zamek Książ) bei Waldenburg (Wałbrzych). Bis heute wird die Engländerin in der polnischen Region für ihr soziales Engagement verehrt und ist immer wieder Inspiration für literarische Stoffe – beispielsweise in „Dunkel, fast Nacht“ von Joanna Bator.

Erstmalig wurde dem deutschen Publikum das BuchJenseits“ (poln. „Zaświaty“) von Krzysztof Fedorowicz vorgestellt. In Polen war es eines der fünf besten Bücher im Finale des NIKE 2021, des wichtigsten polnischen Literaturpreises. Die deutsche Übersetzung von Hans Gregor Njemz erscheint im Mai 2022 im Görlitzer Senfkorn Verlag. Der Autor ist zugleich Schriftsteller und Winzer aus Grünberg (heute Zielona Góra). Die ehemals östlichste deutsche Obst- und Weinstadt feiert 2022 ihr 800jähriges Jubiläum und wird dieses Jahr auch im weiteren Programm des Kulturreferates für Schlesien eine Rolle spielen.

Als dritte Premiere trat der zweite Band der deutsch-polnischen Anthologie Wanderer im Riesen-Gebirge in die Öffentlichkeit. Die durch das Kulturreferat am Schlesischen Museum zu Görlitz und den polnischen Verlag Wielka Izera verlegten Reiseberichte entführen die Leser in die teils schon verschwundenen Welten des Iser- und Riesengebirges und wecken Lust auf eine Wanderung – hier und jetzt.

Darüber hinaus umfasste das Programm eine Mischung aus alten und neueren Texten von polnischen und deutschen Autoren, die an dem Abend entweder nur auf Deutsch oder auf Deutsch und Polnisch vorgelesen wurden.

Lesen (auch) für Senioren

Die Route des Schlesischen Nachtlesens erstreckte sich dieses Jahr zwischen zwei Görlitzer Seniorenheimen: der Villa Marie Curie in der Joliot-Curie-Straße und dem Zentralhospital in der Krölstraße. Im Gegensatz zu anderen Orten, sind die Pflegeheime immer noch zur Einhaltung von G-Regeln verpflichtet, deswegen gab es in beiden Seniorenheimen zeitlich und räumlich getrennte Angebote: für die Bewohner der Seniorenheime und für das Publikum von außen.

Das war das Programm des Schlesischen Nachtlesens:

Autorengespräch mit Joanna Bator am 8. April 2022 im Miejski Dom Kultury in Zgorzelec, organisiert in Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek Zgorzelec. Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator, die Preisträgerin des deutsch-polnischen Riesengebirgspreis für Literatur 2021, ist in Wałbrzych (Waldenburg) geboren und aufgewachsen und sieht hier ihre literarische Inspirationsquelle. Ihre ersten, in Niederschlesien verankerten Romane „Sandberg“ und „Dunkel, fast Nacht“, wurden bereits ins Deutsche übersetzt und in Görlitz-Zgorzelec (beim Schlesischen Nachtlesen und den Deutsch-Polnischen Literaturtagen an der Neiße) präsentiert. Im Mittelpunkt des Abends stand das neueste Buch mit dem Titel „Gorzko, gorzko“ (wortwörtlich „Bitter, bitter“), das gerade von Lisa Palmes ins Deutsche übersetzt wird und demnächst unter dem Titel “Bitternis” in Deutschland erscheint.

Ina Maria Kwiatkowski las “Tanz auf dem Vulkan” von Daisy von Pless in der Villa Marie Curie. In ihren Tagebüchern schildert die Fürstin Daisy von Pless (1873-1943), eine der schillerndsten und bedeutendsten Figuren der schlesischen Geschichte, ihr mondänes Leben bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und ihre zahlreichen Begegnungen und Beziehungen in Politik und Adel. Wechselvolle Geschichte Schlesiens wird aus der Perspektive einer faszinierenden Persönlichkeit erzählt.

Andrea Friederike Behr las „Jenseits“ von Krzysztof Fedorowicz in Art Goreliz – Buchhandlung und Café. Der für seinen Sekt berühmte Grünberger Winzer August Grempler (1793-1869) beschließt, im pandemischen Jahr 2020 zurückzukehren und Geschichten um Grünberg (heute Zielona Góra) aus dem Jenseits ins Heute zu bringen. Über Weinbau, Pestseuchen, Hexenprozesse, die Auswanderung der Altlutheraner aus der Grenzregion Schlesien-Brandenburg-Großpolen nach Südaustralien Mitte des 19. Jahrhunderts oder das Ende des Zweiten Weltkrieges in der Stadt wird hier poetisch, bildhaft aber auch informativ erzählt.

Philipp Restetzki las in Benigna Görlitzer Sagen mit musikalischer Begleitung von Semper Mirandus. Verrätergasse, Klötzelmönch, dreibeiniger Hund und viele andere: Geschichten von Menschen und Begebenheiten der Stadt Görlitz, aufbewahrt im kollektiven Gedächtnis und über Generationen durch Erzählung weitergegeben, erklingen zu stimmungsvoller Musik.

Arielle Kohlschmidt las bei CASUS „Wir machen das schon. Lausitz im Wandel“ hrsg. von Johannes Staemmler. Die Lausitz hat einen Strukturbruch hinter und einen Strukturwandel vor sich. Wie unterscheidet sich der aktuelle Veränderungsprozess von den Brüchen der Nachwendejahre? Wer sind die Menschen in der Lausitz? Was denken, hoffen, was unternehmen sie? Das Buch versammelt 15 Gesichter und Geschichten, die mit ihren unterschiedlichen Erzählperspektiven für die Vielschichtigkeit des Landstrichs stehen.

Dr. Agnieszka Gąsior las im Schlesischen Museum „Unterwegs zum Orient. Ida Gräfin Hahn-Hahns Schlesienfahrt 1843. Ein Reisebericht“ hrsg. von Beate Borowka-Clausberg. Ida Gräfin Hahn-Hahn (1805-1880) war eine selbstbewusste Frau, leidenschaftliche Reisende und eine der populärsten Schriftstellerinnen des späten Biedermeier. Sie war auch die erste Frau, die einen Reisepass für den Orient beantragte – und auch bekam, was damals eine Sensation war. Ihre 1843 in Dresden begonnene Orientreise führte sie zunächst über Schlesien und Böhmen nach Wien. In den 1844 erschienenen „Orientalischen Briefen“ beschreibt sie den Weg dorthin und ihre drei Wochen in Schlesien. Ein höchst lesenswerter und aufschlussreicher Bericht über Schlesien, seine Landschaft und seine Menschen. Ausschnitte wurden auch im ersten Band der deutsch-polnischen Anthologie “Wanderer im Riesen-Gebirge” veröffentlicht.

Magdalena Lambertz und Lothar Bartusch lasen Gedichte von Wisława Szymborska aus dem Band „Der Augenblick. Chwila“ im Hallenhaus Brüderstraße 9. Die Lyrikerin Wisława Szymborska (1923-2012) zählt zu den bedeutendsten polnischen Autorinnen ihrer Generation und wurde 1996 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Ihr Werk umfasst rund 350 Gedichte, die in Deutschland zumeist in der Übersetzung von Karl Dedecius erschienen. In einer einfachen, leicht verständlichen Sprache gehalten, geprägt von geistreichem Wortwitz, Doppeldeutigkeit, Zweifel, Ironie und auch Melancholie, behandeln die Gedichte meist alltägliche Begebenheiten – stets aber aus ungewöhnlichen Perspektiven, die zu allgemeinen, philosophischen Fragestellungen führen.

Tomasz Lewandowski las in der Heine Kinobar „Das Album von Piotr Strzałkowski, anschließend wurde der Film „Das Album von Hans 1934-38 von Mieczysława Wazacz präsentiert. 2005 bekommt der in Warschau lebende Informatiker und Autor Piotr Srzałkowski ein anonymes deutsches Album mit fast 1500 Negativen aus den Jahren 1935-38 in die Hand und beschließt, die abgebildeten Orte und den Fotografen zu identifizieren. So beginnt sein sechsjähriges Abenteuer, das er in „Das Album“ (2013, in polnischer Sprache) beschreibt. Die Lektüre inspirierte die Filmemacherin Mieczysława Wazacz zum Kurzfilm „Das Album von Hans 1934-38“, der nach jeder Lesung präsentiert wurde.

Dr. Stephan Meyer MdL las „Steter Tropfen höhlt den Stein?“ von Władysław Bartoszewski im Kaufhaus Totschek. Als junger Mensch erlebte Władysław Bartoszewski (1922-2015) die Grausamkeit des KZ Auschwitz und war Zeuge der Zerstörung seiner Heimatstadt Warschau durch die Deutschen. Ab Mitte der 1960er Jahre, als das deutsch-polnische Verhältnis noch vor dem Zweiten Weltkrieg belastet und von Feindseligkeiten geprägt war, setzte er sich unermüdlich in beiden Ländern für den Dialog ein: als Publizist, Diplomat und Politiker. „Was ich zu den Deutschen und über die Deutschen in einem halben Jahrhundert gesagt habe“ heißt im Untertitel die Sammlung seiner Reden und Essays, die Anfang 2022 anlässlich des 100. Geburtstages von Bartoszewski (auch online) veröffentlicht wurden.

Dr. Daniel Morgenroth (Generalintendant des Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau) las „Görlitz mit Knabenaugen“ von Werner Finck im Werkstattgebäude des Görlitzer Theaters. Der in Görlitz geborene Kabarettist, Schauspieler und Schriftsteller Werner Finck (1902-1978) blickt in diesem 1964 veröffentlichen Text augenzwinkernd, ironisch und mit dem ihm eigenen genialen Sprachwitz auf seine Heimatstadt. Hinter der humorvollen Kulisse geht es jedoch um ernsthafte, zeitlose Fragen: Herkunft, (Wahl)Heimat, Identität.

Axel Krüger las im Kochwerk „Die Reise mit Auswanderern von Altona nach Port Adelaide, Südaustralien, 1838“ von Dirk M. Hahn, Kapitän der ZEBRA. Im August 1938 sticht im Hafen von Altona die ZEBRA unter Kapitän Dirk M. Hahn in Richtung Australien in See. An Bord sind fast 200 Auswanderer aus der Grenzregion Schlesien-Brandenburg, die ihre Heimat aus religiösen Gründen verlassen. Jahre später schildert Kapitän Hahn die Überfahrt aus der Sicht eines Mannes, der sich während der Reise vom distanziert beobachtenden Kapitän zum mitfühlenden und anteilnehmenden Berater und väterlichen Beschützer der ihm anvertrauten Menschen entwickelt, und der schließlich in Australien die weiteren Geschicke „seiner“ Auswanderer selbst in die Hand nimmt. Zum Dank trägt die Siedlung seither seinen Namen: Hahndorf.

Gunnar Hille las in der Brillenlounge „Polski Blues“ von Janosch. Liebevoll erzählt Janosch die Geschichte von Staszek, der seine zwei Freunde auf eine Reise in die polnische Provinz mitnimmt, um ihnen jemanden vorzustellen, der “zu leben gewusst” habe. Er zeichnet dabei das schaurig-schöne Bild vom Dörfchen Kuźnice und seinen einfachen, aber liebenswürdigen Bewohnern. Mit “Polski Blues” hat Janosch eine wunderbare, wehmütig-humorvolle Liebeserklärung an seine alte Heimat Polen geschrieben – und ein weises Buch über die Kunst zu leben und das Leben zu lieben.

Dr. Ewa Wieszczeczyńska las „Wie Übersetzer die Welt retten“ von Olga Tokarczuk in Kolaboracja. “Der zärtliche Erzähler” ist der Titel des ersten Buches von Olga Tokarczuk nach dem Literaturnobelpreis. Es besteht aus fesselnden Essays über das Schreiben, das Lesen, die Literatur und im weiteren Sinne die Kultur. Ein Text ist den Übersetzern und ihrer Arbeit gewidmet. Olga Tokarczuk schreibt über die Rolle des Übersetzers von Büchern – über kreative Verantwortung und die Teilung der Autorenschaft.

Stefan Bley las im Zentralhospital „Wanderer im Riesen-Gebirge“, hrsg. von Marcin Wawrzyńczak und Agnieszka Bormann. In den zwei Bänden der Anthologie der Reiseberichte aus dem 17.-20. Jahrhundert wird die größtenteils verschwundene Welt des Iser- und Riesengebirges wieder lebendig. Neben dem spektakulären Sonnenaufgang auf der Schneekoppe erleben wir den Lebensalltag in den Bauden: essen Kräuterkäse und trinken Molken, schlafen auf dem Heuboden, tanzen samstags zur betörend lauten Musik, um dann unterwegs das Rauschen der Wasserfälle und das Glockenläuten der weidenden Kühe zu genießen…

Konzert „Szymborska und Freunde“ von Jacek Telus im Dom Kultury in Zgorzelec. Zehn Jahre nach dem Tod der großen polnischen Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska würdigte das Konzert ihre Poesie, die teilweise zu einem festen Bestandteil der polnischen Kultur und Sprache geworden sind. In Deutschland sind ihre Gedichte in der kongenialen Übersetzung von Karl Dedecius erschienen. Das multimediale Konzert mit dem Titel “Szymborska und Freunde” von Jacek Telus war ein einzigartiges Mysterium aus Poesie und Musik. Neben den Gedichten der Nobelpreisträgerin standen im Programm auch Gedichte von ihren Freunden, darunter Czesław Miłosz und Zbigniew Herbert.

Das Schlesische Nachtlesen 2022 in Zahlen
  • 1 Autorengespräch
  • 1 Konzert
  • 1 Aftershow
  • 1 Leseort á 5 Lesungen
  • 5 Filmvorführungen
  • 12 Leseorte á 10 Lesungen
  • 15 Veranstaltungsorte
  • 23 Mitwirkende als Leserinnen, Leser und Musiker
  • 300 verkaufte Eintrittsbändchen
  • 1900 Besuche auf den Strichlisten an allen Orten

Text: Agnieszka Bormann
Fotos: Arkadiusz Kucharski, Axel Lange
Grafiken: Jacek Jankowski, PontonStudio