“Entschuldigung, haben Sie einen Schmetterling mit nur einem Flügel gesehen?” (Wielka Woda II)

Die Einwohner von Wrocław erinnern an das große Hochwasser 1997

Die Ereignisse werden in der Netflix-Serie „High Water“ filmisch verarbeitet.

Henryk Motyl (Motyl bedeutet auf Deutsch Schmetterling) lebt seit mehreren Jahrzehnten in der Ohlauer Vorstadt (Przedmieście Ołąwskie) in Wrocław (Breslau). Er erinnert sich gut an das Hochwasser im Sommer 1997, weil er kurz davor seine Wohnung gründlich renoviert hat (zwei Tage vor der Flut). “Ich wollte die Fenster nicht durch Kunststofffenster ersetzen”, erinnert sich der Befragte. “Deshalb habe ich die Holzfenster mehr als zwei Monate lang geschliffen, damit sie wie neu aussehen. Eines Tages kam ein Kollege zu mir und sagte, dass eine Flutwelle sich der Stadt nähert. Ich habe es nicht geglaubt. Wasser im Zentrum von Wrocław? Unmöglich. Zu dieser Zeit (Juli 1997) war es außergewöhnlich sonnig und warm. Und doch hat es mich nicht losgelassen. Als ich am nächsten Tag in den Hof ging und dort junge Leute sitzen sah, bat ich sie um Hilfe, und wir trugen die Sachen auf den Dachboden. Für den Fall.”

Henryk Motyl erinnert sich sehr gut an die Überschwemmung – seine Wohnung im Erdgeschoss wurde komplett überflutet. Jahre später kann er mit Humor darüber sprechen, aber damals war es den Leuten nicht nach Lachen zumute.

Die Einwohner der Ohlauer Vorstadt mussten nicht lange auf das große Wasser warten. Als Henryk Motyl und seine Nachbarn am nächsten Tag im Hof saßen, hörten sie ein seltsames Geräusch. “Zuerst kamen die Ratten aus den verschiedensten Winkeln und Ritzen gekrochen – und zwar nicht einzelne Ratten, sondern ganze Rattenfamilien. Sie wussten bereits, was die Menschen nicht wahrnehmen wollten: man muss sich evakuieren. Nach einer Weile hörten wir das Geräusch von Wasser. Das Wasser sprudelte aus den Abwasserkanälen wie eine Fontäne. Bald stellte sich heraus, dass ein reißender Strom die Kościuszki-Straße (ehem. Tauentzienstraße) entlang fließt und die einzelnen Höfe gnadenlos überflutet. Ziemlich schnell erreichte das Wasser die Prądzyńskiego-Straße – zuerst überflutete es die Keller, dann die Treppenhäuser und schließlich die Wohnungen im Erdgeschoss. Das Wasser auf der Straße stand bis zu einem halben Meter hoch.

Die Ohlauer Vorstadt hat sich seit Jahrzehnten nur wenig verändert. Deshalb wird sie oft als Filmkulisse genutzt.

Henryk Motyl hatte sein eigenes Boot zu Hause. Um sich ein Bild von der Lage zu machen, fuhr er mit dem Boot in Richtung Stadt. Der Rückweg war äußerst beschwerlich – in den ersten beiden Tagen war der Fluss so reißend, dass das Paddeln schwer war. Nach zwei Tagen wurde das Wasser ruhig, aber es blieb sehr lange stehen. “Wir waren praktisch von der Welt abgeschnitten. Es gab keine Kommunikation: kaum jemand hatte ein Telefon. Ich habe den Jungs aus der Ohlauer Vorstadt mein Boot zur Verfügung gestellt, damit sie uns Essen mitbringen konnten. Sie taten es bereitwillig – ein wenig zur eigenen Freude, ein wenig, um zu helfen.

Das große Wasser weckte eine ungewöhnliche menschliche Solidarität.

Auch aus anderen Teilen der Stadt kamen Neugierige. Sie machten Kanufahrten, um zu sehen, wie die überflutete Stadt aussah. Ich habe sogar ein paar verjagt. Wenn ihr kommt, dann kommt, um zu helfen! – schimpfte ich. Es gab auch schlaue Leute, die die Situation ausnutzten wollten: Sie wussten, dass die Menschen ohne Nahrung und Wasser zurückgelassen wurden. Aber es gab nur sehr wenige solcher Menschen. Die meisten wollten helfen”. 

Das überflutete Krankenhaus in der Traugutta-Str. (ehem. Klosterstraße) wurde nach dem Hochwasser zugemacht.

Als das Wasser nach den Überschwemmungen zurückging, konnte mit der Reinigung der Wohnungen und Höfe begonnen werden. Die Feuchtigkeit blieb jedoch bestehen. Deshalb mussten die Wohnungen gelüftet werden und die Fenster waren ständig geöffnet. “Als ich die Fenster endlich schließen wollte, stellte sich heraus, dass es unmöglich war – meine schönen Holzrahmen, die ich mit so viel Mühe renoviert habe, hatten sich verzogen. Ich habe den Schaden bei der Stadt gemeldet. Eine Dame von der Stadtverwaltung kam, sah sich die Fenster an und sagte, ja, sie müssen ersetzt werden, aber nicht die ganzen Fenster, sondern nur die Hälften. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und habe sie gefragt: “Entschuldigung, haben Sie einen Schmetterling mit nur einem Flügel gesehen?”

Und mit dieser Anekdote von Henryk Motyl (Schmetterling) möchten wir Sie anregen, sich die Serie “High Water” anzusehen. Die Serie wurde weltweit bereits von mehr als 10 Millionen Zuschauern gesehen. Fünf Tausend Statisten waren an den Dreharbeiten beteiligt. Viele von ihnen waren Menschen, die vor 25 Jahren gegen das Hochwasser gekämpft haben. Ihnen und allen Bewohnern von Wrocław ist die Serie gewidmet.

Text & Bilder (falls nicht anders angegeben): Małgorzata Urlich-Kornacka

Mehr Info über das Hochwasser 1997