Buchempfehlung: Alles, was wir nicht erinnern

Die Autorin Christiane Hoffmann läuft über 500 Kilometer den Fluchtweg ihres Vaters von Schlesien nach Westdeutschland nach 

In ihrem sehr persönliches Buch setzt sie sich mit der Geschichte und ihren Narben auseinander.

“Zu Fuß?” “Zu Fuß.” “Allein?” “Allein.”

Am 22. Januar 2020 macht sich Christiane Hoffmann in einem Dorf in Niederschlesien auf den Weg. Sie läuft 550 Kilometer nach Westen. Es ist der Weg, auf dem ihr Vater als Kind im Winter 1945 vor der Roten Armee geflohen ist. Die Flucht und der Verlust der Heimat prägen die Kindheit der Autorin. Es bleibt, wie bei so vielen Familien, eine Wunde. Nach dem Tod des Vaters kehrt die Tochter nach Rosenthal zurück, das jetzt Różyna heißt. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Sie läuft das verfluchte 20. Jahrhundert aus sich heraus.

Foto: Verlag.

Deutschland in den 1970er Jahren. Unter dem Tisch sitzen die Kinder. Oben seufzen die Erwachsenen, essen Schnittchen und reden über die verlorene Heimat. Sie übertragen ihre Verletzungen und Alpträume auf die nächste Generation. Was bleibt heute vom Fluchtschicksal? Wie gehen die Familien, wie gehen die Gesellschaften, Deutsche, Polen und Tschechen damit um? Auf ihrer Wanderung sucht Christiane Hoffmann nach der Gegenwart der Vergangenheit. Sie kämpft sich durch Hagelstürme und sumpfige Wälder. Sie sitzt in Kirchen, Küchen und guten Stuben. Sie führt Gespräche – mit anderen Menschen und mit sich selbst. Ihr Buch überführt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ins 21. Jahrhundert und mahnt an die Schrecken des Krieges. Es verschränkt die Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg. Doch es ist vor allem ein sehr persönliches Buch, geschrieben in einer literarischen Sprache, eine Suche nach dem Vater und seiner Geschichte, nach dem, was er verdrängte, um zu überleben.

Die Autorin Christiane Hoffmann studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Journalistik, arbeitete für FAZ und SPIEGEL und ist heute Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Fot. Ekko von Schwichow.

Für dieses Buch wird die Autorin mit dem Riesengebirgspreis für Literatur 2023 ausgezeichnet.

Text: Redaktion SILESIA News