Odyssee im Osten zu Beginn des Zweiten Weltkrieges

Damian Gołąbek, ein Oberschlesier in den sowjetisch besetzten Gebieten

Eine ungewöhnliche Geschichte einer Flucht aus Oberschlesien – und einer Rückkehr.

Wie jedes Jahr im September werden bei Damian Gołąbek, einem emeritierten Geschichtslehrer aus Boronow (Boronów) im Kreis Lublinitz (Lubliniec), die Erinnerungen an das Jahr 1939 wach. Doch seine Erlebnisse aus dieser Zeit unterscheiden sich von denen der meisten zivilen Einwohner der Region.

Damian Gołąbek (geb. 1933) war langjähriger Direktor der Grundschule in Olschin (Olszyna) im Kreis Lublinitz. Der gelernte Historiker ist Autor mehrerer Beiträge und Veröffentlichungen zur lokalen Geschichte. Fot. Dawid Smolorz.

Als am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, lebte Gołąbek zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern in Dembowagora (Dembowa Góra). Der Ort lag in Polnisch-Oberschlesien, auf halbem Wege zwischen Lublinitz und Tschenstochau (Częstochowa), nur 20 km von der Reichsgrenze entfernt. Angesichts des deutschen Angriffs organisierte die Polnische Staatsbahn PKP noch am ersten Kriegstag die Evakuierung vieler Angestellter und ihrer Angehörigen. In dieser Gruppe befand sich auch die Familie Gołąbek. Mit Pferdewagen wurden die Flüchtlinge nach Tschenstochau gebracht, von wo es mit einem Güterzug langsam in Richtung Osten weiterging. Während der Fahrt wurde der Zug mehrmals von deutschen Kampfflugzeugen beschossen. Der sechsjährige Damian Gołąbek sah damals zum ersten Mal in seinem Leben Tote und Schwerverletzte.

Das Ziel der Reise war lange unbekannt. Da die deutschen Verbände anders als erwartet rasch ins Landesinnere vordrangen, fuhr der Zug weiter über den Bug in die östlichen Gebiete Polens. Die Fahrt endete nach drei Tagen in Kowel, einer Kreisstadt in Wolhynien (heute gehört diese Region zur Ukraine). Das neue Domizil der oberschlesischen Familie wurde das 15 Kilometer von der Stadt entfernte Rużyn, wo sie zusammen mit anderen Flüchtlingen, insgesamt an die 20 Menschen, in ein kleines, verlassenes Haus einziehen durften. „Wie die meisten Orte in diesem Teil des Landes war Rużyn ethnisch gemischt und bestand aus zwei deutlich voneinander getrennten Teilen: einem polnischen und einem ukrainischen. Vom Krieg war dort zwar nichts zu spüren, doch die Atmosphäre war dennoch angespannt. Seit dem Ausbruch des deutsch-polnischen Konflikts hätten die Polen nämlich Angst vor ihren ukrainischen Nachbarn, wurde uns erzählt“, so der emeritierte Lehrer. Wie sich später herausstellte, waren diese Befürchtungen nicht unbegründet. In den Jahren 1943-1944 führten ukrainische Nationalisten in Wolhynien und Ostgalizien ethnische Säuberungen an der polnischen Bevölkerung durch, die sich durch extreme Brutalität kennzeichneten und denen zwischen 80.000 und 120.000 Menschen zum Opfer fielen.

Im dem abgelegenen Dorf war die Familie von den Nachrichten über den Kriegsverlauf weitgehend abgeschnitten. Dass die Sowjetunion als Verbündete Deutschlands in den Krieg eingetreten war, erfuhr die Familie erst, als ein Trupp Rotarmisten in Rużyn einmarschierte. „In unserer Gegend gab es keine Kampfhandlungen. Eines Tages sahen wir auf einmal seltsam gekleidete, fremde Soldaten. Charakteristisch waren ihre hohen Mützen mit großen, roten Sternen. Die Menschen im Dorf wurden unruhig, aber organisierte Schikanen hat es direkt nach dem Einmarsch nicht gegeben. Schon bei der ersten Begegnung haben die Rotarmisten meinem Vater seine Taschenuhr und seine Schuhe weggenommen,“ erinnert sich Damian Gołąbek.

Sowjetische Soldaten marschieren in Polen ein, 17. September 1939. Quelle: http://karski.muzhp.pl/wojna_17_wrzesnia.html, Wikimedia Commons.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde allen klar, dass Polen den Krieg verloren hat und dass das Land nun zwischen Deutschland und die Sowjetunion aufgeteilt wird. Weiterer Aufenthalt in dem nun unter Kontrolle Moskaus stehenden Wolhynien war daher nicht nur zwecklos, sondern auch gefährlich, denn bereits wenige Wochen nach der Besetzung der Ostgebiete begannen Deportationen polnischer Bevölkerung nach Sibirien und Kasachstan. Angesichts dessen beschlossen die Gołąbeks, so bald wie möglich nach Oberschlesien zurückzukehren, doch erwies sich dieser Plan viel komplizierter, als man anfangs dachte. Den Ausreiseantrag in die deutsch besetzten Gebiete nahmen die sowjetischen Behörden zwar an, doch verhielten sich sehr zögerlich. Selbst die vielen Besuche, die der Vater in den Ämtern der Kreisstadt Kowel abstattete, brachten kein Ergebnis. Im Gegenteil: Einmal wurde er dort sogar stark misshandelt. Über die Einzelheiten dieses Vorfalls wollte er nie sprechen.

Deutsch (braun) und sowjetisch (rot) besetzte Gebiete Polens, 1939. Quelle: Poznaniak, Wikimedia Commons.

Einer befreundeten Familie aus dem Lublinitzer Land, die es im September 1939 ebenfalls in den Osten Polens verschlagen hatte, gelang die Flucht über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie. „Sie haben einen sowjetischen Grenzsoldaten bestochen“, berichtet Gołąbek. „Sie erzählten mir später, vom westlichen Bug-Ufer hatte ein deutscher Soldat ihre Flucht über den zugefrorenen Fluss beobachtet. Als sie die deutsch besetzte Seite erreicht hatten, hatte er ihnen geholfen, auf das steile Ufer zu klettern“. Doch die Gołąbeks wollten ein solches Risiko nicht eingehen, denn es war ihnen klar: Wird man erwischt, muss man bestenfalls mit der Verschleppung nach Sibirien rechnen.

Deutsch-sowjetische Siegesparade im ostpolnischen Brest-Litowsk am 22. September 1939. Quelle: https://www.flickr.com, Wikimedia Commons.

Nach langem Warten erhielt die Familie endlich im Mai 1940, also nach achtmonatigem Aufenthalt in Wolhynien, eine Ausreisegenehmigung. Am Abreisetag versammelten sich auf einer kleinen Bahnstation viele Menschen, die aus Gebieten stammten, die nun unter deutscher Besatzung standen oder wie die ostoberschlesische Heimat der Gołąbeks, direkt an das Reich angeschlossen wurden. „Noch vor der Abfahrt haben die Sowjets jedes Gepäckstück aufs Genaueste kontrolliert und jeden Brotlaib in kleine Stücke gebrochen. Nicht alle Ausreisewilligen durften mitfahren. Wie mir meine Eltern später erzählten, waren diejenigen, die versucht hatten, etwas illegal mitzunehmen, oder deren Aussehen ‘kapitalistische Abstammung’ verraten hatte, anschließend nach Sibirien deportiert worden“, so der Boronower.

Die Reise führte zunächst in die dem Reich direkt einverleibte Großstadt Lodz (Łódź), wo sich alle Rückkehrer einer Quarantäne unterziehen mussten. Erst danach ging es weiter nach Oberschlesien. Damit endete die lange und gefährliche Odyssee, die – mit dem heutigen Wissen – sogar sinnlos erscheinen könnte. Denn die deutsche Wehrmacht behandelte den (erst seit 1922) polnischen Teil Oberschlesiens grundsätzlich als eigenes Gebiet und es fanden dort keine schweren Kämpfe statt. In Demobowagora, dem Heimatort der Familie, war der Polenfeldzug schon am 1. September 1939 nachmittags zu Ende. Die meisten Einwohner flohen morgens in die umliegenden Wälder und kehrten am Abend desselben Tages in ihr bereits unter deutscher Kontrolle stehendes Dorf zurück. Die Bevölkerung wurde generell nicht schikaniert, allerdings gab es Ausnahmen. Wie sich am Ende herausstellte, waren die Strapazen doch nicht umsonst gewesen, denn zu diesen Ausnahmen hätte auch Damian Gołąbeks Vater gehört. Da er in den frühen 1920er Jahren als schlesischer Aufständischer für die Zugehörigkeit der Region zu Polen gekämpft hatte, stand er auf deutschen Fahndungslisten und wurde während des Aufenthaltes der Familie in Wolhynien von der Gestapo gesucht. Deshalb floh er auch gleich nach der Rückkehr aus dem Osten ins Generalgouvernement und blieb dort bis zum Kriegsende. Die Familie sah ihn erst 1945 wieder.

Text: Dawid Smolorz