Die Flutwelle verschont die niederschlesische Hauptstadt

Nach dem Hochwasser im Glatzer Land ist die Oder in Breslau randvoll, bleibt aber im Stadtzentrum  in ihren Ufern

Breslauer fürchteten eine Wiederholung von 1997. Jetzt atmen sie erleichtert auf.

Die Flutwelle geht an Breslau (Wrocław) vorbei. Tausende Breslauer atmen auf. Diesmal hat Viadrus, der Gott der Oder, Mitleid mit den Einwohnern der Stadt gezeigt. Breslau wurde verschont. So viel Glück hatten leider viele andere niederschlesische Städte, die an den Zuflüssen der Oder liegen, nicht.

Barrikaden aus den Sandsäcken auf der Breslauer Sandinsel.

Heute erinnern in Breslau nur Tausende Sandsäcke an die Angst und große Solidarität der Menschen, die die letzte Woche überall Hand in Hand Barrikaden aufgestellt haben. Diesmal hat man den beruhigenden Einschätzungen der Regierenden nicht ganz geglaubt und wollte sich vorbereiten. Viele hatten die Bilder von 1997 vor Augen: ein Drittel der Stadt stand unter Wasser.

Auch vor dem Nationalen Forum für Musik (NFM) wurden Sandsäcke gemeinschaftlich gefüllt.

Seit dem Jahrhunderthochwasser 1997 wurde viel investiert: die Oder wurde vertieft, man befestigte die Ufer und reparierte die Deichen, die Schleusen wurden renoviert und neue Polder gebaut. In der Wojewodschaft Schlesien (in den Landkreisen Wodzisław Śląski / Loslau und Racibórz / Ratibor) wurde 2020 mit „Racibórz Dolny“ ein trockener Hochwasserschutzstausee (Polder) der Oder mit einer Fläche von 26,3 Quadratkilometern und einem Fassungsvermögen von 185 Millionen Kubikmetern fertig gebaut. Dieses Jahr hat er die Flutwelle übernommen und viele Städte an der Oder gerettet. Der Gigant wurde fast bis zu 80 Prozent aufgefüllt.

Viadrus oder der Gott der Oder

Wenn man der Oder eine menschliche Gestalt geben wollte, würde man zuerst einen Mann vor Augen haben. In den ältesten historischen Quellen wird die Oder als „Viadrus fluvius“ bezeichnet, weshalb der Gott der Oder auch Viadrus genannt wird. Er wird als kräftiger und gut gebauter Mann mit nacktem Oberkörper und einem Himation an den Hüften dargestellt. Er trägt einen Schilfkranz auf dem Kopf und hält ein Ruder in der Hand – ein Symbol für die Schiffbarkeit des Flusses. Oft lehnt er an einem Krug, aus dem sich Wasser ergießt und aus dem eine Schlange herauskriecht – so stellt er die malerischen Mäander des Flusses dar.

Viadrus auf dem Plafond der kaiserlichen Treppe im Hauptgebäude der Universität Wrocław.

Viadrus sorgte stets dafür, dass den Menschen nie die Fische ausgingen und dass sie wohlhabend und sicher an der Oder lebten. Aber wenn er wütend auf sie war, konnte er grausam sein und eine Flut über ihre Häuser schicken. Die interessantesten Darstellungen des Odergottes Viadrus finden sich am Gewölbe der Musikempore der Aula Leopoldina (das Gemälde stammt von Johann Christoph Handke) und am Treppenhaus des Hauptgebäudes der Universität Wrocław (von Felix Anton Scheffler).

Manchmal nimmt die Oder auch die Gestalt einer Frau an, aber nicht die einer vornehmen Dame oder Gräfin. Paul Keller, ein zu seiner Zeit sehr berühmter Schriftsteller und Dichter, dessen Grab sich auf dem St.-Laurentius-Friedhof in Breslau befindet, stellte die Oder als ein „edles Bauernweib“ dar. In seiner amüsanten Erzählung über deutsche Flüsse („Das Märchen von den deutschen Flüssen“) aus dem Jahr 1912 beschrieb er einen Ball, den die Gräfin Elbe organisieren wollte. Es stellte sich heraus, dass sie ein großes Problem hatte: unter der gesellschaftlichen Elite der Flüsse waren fast nur Frauen: die Weser, die Oder, die Donau, die Memel, die Weichsel usw. In dem Märchen beschrieb Keller die Oder auf folgende Art und Weise:

„Die Oder ist ein edles Bauernweib. Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlestaub liegen manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus. Zu Grünberg nippt sie ein gutes, bescheidenes Haustränklein. Die bei ihr wohnen, sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus.“

Die Oder als Inspirationsquelle

Diese Beschreibung der Oder ist sehr zutreffend, denn der Fluss diente jahrhundertelang vor allem als Transportweg. Heute bildet die Oder auch Inspiration und Vorbild für Schriftsteller und Künstler. Der niederschlesische Fluss wurde beispielsweise in einem Lied von Maria Koterbska aus Wrocław verewigt: „Der Abend bricht an, die Nacht ist nah, / Schon funkeln die Sterne am Himmel. / Die Oder, mein liebster Fluss, leuchtet silbern / Und fließt mit einem Lied zu dir“.

Es ist nicht zu übersehen, dass die blauen Straßenbahnen, die durch Straßen von Breslau fahren, ein wenig an die fließende Oder erinnern. Auf dem Xawery-Dunikowski-Boulevard wiederum fällt der Blick auf die von Stanisław Wysocki geschaffenen Oder-Nymphen: „Prinzessin der Welle“ und „Prinzessin des Windes“. Sie sollen neues junges Gesicht des Flusses zeigen.

Auch das Hochwasser hat ein Frauengesicht bekommen. Das verdanken wir der „Hochwasserfrau“ (Powodzianka) von der Universitätsbrücke. Diese drei Meter hohe Skulptur von Stanisław Wysocki entstand als Dankeschön an die Breslauer, die während des Hochwassers 1997 Bücher und Dokumente retteten und damit bewiesen, dass die Einwohner in Zeiten der Not zusammenhalten und auch an das kulturelle Erbe ihrer Stadt denken. Und das hat sich jetzt bestätigt. Die Breslauer haben eigene Stadt verteidigt und helfen jetzt den Nachbarn aus dem Glatzer Land, die nicht so viel Glück hatten…

Text & Bilder: Małgorzata Urlich-Kornacka