Wird in Schlesien die Staatsgrenze verschoben?

Seit dem polnisch-tschechoslowakischen Gebietsaustausch von 1958 „schuldet“ Prag den Nachbarn 368 Hektar Land.

Das tschechische Außenministerium bestätigte kürzlich, Verhandlungen mit Warschau wiederaufgenommen zu haben.

Die Grenze zwischen Polen und der Tschechischen Republik hat eine Länge von 796 km. Auf polnischer Seite verläuft sie in ihrem westlichen Abschnitt entlang der historischen Grenze Schlesiens. Im Osten teilt sie wiederum Oberschlesien in einen polnischen und einen tschechischen Teil auf. Somit werden bei jeder Verschiebung der polnisch-tschechischen Staatsgrenze schlesische Gebiete betroffen sein.

Obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl Polen als auch die Tschechoslowakei dem Ostblock gehörten, überschatteten vor allem in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre gegenseitige Gebietsansprüche die Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Warschau war bestrebt, den überwiegend von polnischsprachiger Bevölkerung bewohnten westlichen Teil des Teschener Schlesiens wieder unter eigene Kontrolle zu bringen (1938/1939 hatte der Landstrich bereits kurzzeitig zu Polen gehört). Prag pochte wiederum vehement auf die Übernahme der 1945 unter polnische Verwaltung gestellten südoberschlesischen Gebiete und der Grafschaft Glatz. Da der Streit auch seine heißen Phasen hatte, zwang Kreml beide Parteien dazu, den Status quo von 1939 zu akzeptierten. Aus Sicht Moskaus war ein Krieg zwischen eigenen Vasalen freilich alles andere als gewünscht. Um die Grenze künftig besser bewachen zu können, beschlossen Prag und Warschau anschließend deren Begradigung an neuralgischen Stellen.

Im Jahr 1945 wurde der bis dahin deutsche Ort Schubertskrosse unter polnische Verwaltung gestellt. Nach 13 Jahren wurde er an die Tschechoslowakei abgetreten. Quelle: Kamil Czaiński, Wikimedia Commons.

Bei den im Jahr 1958 durchgeführten insgesamt 85 Grenzkorrekturen handelte es sich meist um unbewohnte Gebiete, doch wechselten in einigen wenigen Fällen auch Ortschaften ihre staatliche Zugehörigkeit. So wurde im oberschlesischen Grenzabschnitt das Dorf Schubertskrosse (tsch. Krasov, poln. Krasów) an die Tschechoslowakei angeschlossen. Der Ort, in dem sich knapp 20 Gebäude befanden, war bereits zum damaligen Zeitpunkt mit dem tschechisch-schlesischen Weidenau (Vidnava) zusammengewachsen. Im Gegenzug erhielt Polen das tschechoslowakische Lerchenfeld (tsch. Skřivánkov, poln. Skowronków), das nur vier Kilometer südlich von Ziegenhals (Głuchołazy) entfernt liegt. Der kleine Weiler bildete bis dahin einen tschechischen Keil, der sich ins polnische Staatsgebiet schob.

Bahnhof in Strickerhäuser(heute amtlich Harrachov-Mýtiny) lag zwischen 1945 und 1958 in Polen. Quelle: Julio, Wikimedia Commons.

Im niederschlesischen Abschnitt wurde der seit 1945 unter polnischer Verwaltung stehende Ort Strickerhäuser (tsch. Mýtiny, poln. Tkacze) der Tschechoslowakei einverleibt. Seitdem liegt er innerhalb der Grenzen der Stadt Harrachsdorf (Harrachov). Polen erhielt dafür den südlichen Hang des Katzensteins (tsch. Kacirske Kamene, poln. Kocierz) im Riesengebirge bei Jakobsthal (Jakuszyce), über dessen Gipfel bis dahin die Staatsgrenze verlief.

Seit der Grenzverschiebung von 1958 verläuft hier die Staatsgrenze entlang des Baches (Mitte). Links Heinersdorf/ Dziewiętlice (Polen), rechts Barzdorf/ Bernartice (Tschechien). Fot. D. Smolorz

Infolge der Grenzkorrekturen wurde der Tschechoslowakei ein Gebiet von 1.205,9 ha übergeben. Polen erhielt wiederum nur 837,46 ha. So entstand die sogenannte tschechische „Grenzschuld“, die 368 ha beträgt. Der angekündigte Ausgleich fand in den Folgejahrzehnten nicht statt. Zwar wurde das Thema nach der politischen Wende 1992 von polnischer Seite wieder aufgegriffen, sogar ein gemeinsamer Grenzausschuss wurde damals ins Leben gerufen, doch war die Motivation zur endgültigen Lösung der Grenzfrage in Warschau offensichtlich nicht allzu groß. Umso erstaunlicher war die Ablehnung des Geldäquivalents, das die Tschechische Republik 2005 Polen angeboten hat. Seit dem Regierungswechsel in Polen Ende 2023 ist die „Grenzschuld“ erneut ein Thema. Inoffiziell erwägt Prag die Abtretung kleiner Teile des Friedländer Zipfels (Friedland in Böhmen / Frýdlant) und unbewohnter Gebiete nahe den schlesischen Städten Weidenau und Jauernig (Javornik).

Grafische Darstellung der Grenzkorrektur von 1958 in der Nähe von Lerchenfeld(hier als Skowronków) und Arnoldsdorf (hier: Jarnołtówek) in Oberschlesien. Die schwarze Linie markiert den Grenzverlauf bis 1958, die graue die aktuelle Grenze. Quelle: www.sciezkawbok.wordpress.com/

Detaillierte Karten der 1958 vorgenommenen Grenzkorrekturen sind auf dem Blog „Ścieżką w bok“  (Polnisch) zu finden.

Text: Dawid Smolorz