Im Juli 1920 räumte der Warschauer Sejm Ostoberschlesien einen Autonomiestatus ein
Mit einem Marsch wurde in Kattowitz/ Katowice an dieses Ereignis erinnert.
Ein knappes Jahr bevor die Oberschlesier an die Volksabstimmungsurnen gingen und zwei Jahre vor der neuen Grenzziehung in der Region räumte der Warschauer Sejm im Juli 1920 jenen oberschlesischen Gebieten, die dem polnischen Staat zugesprochen würden, einen autonomen Status ein. Das polnische Parlament machte dabei keinen Hehl daraus, dass es mit dem Verfassungsstatut für die Wojewodschaft Schlesien mehr bieten wollte als die preußische Regierung, die bereits 1919 den Regierungsbezirk Oppeln zur Provinz Oberschlesien erhoben hatte. Angesichts des nahenden Termins der Volksabstimmung sollte das geplante autonome Statut nicht nur einen Anreiz für die Stimmenabgabe für Polen, sondern auch eine Garantie sein, dass nach dem eventuellen Anschluss an Polen die Eigenart ihrer Region von Warschau berücksichtigt würde.
Die 1922 in ihrer endgültigen territorialen Form gegründete Wojewodschaft Schlesien mit der Hauptstadt Kattowitz/ Katowice bestand aus den bis dahin preußischen Gebieten, die nach der Volksabstimmung Polen zuerkannt worden waren, und einem Teil des bis 1918 habsburgischen Teschener Schlesien. Die Autonomie der Region umfasste unter anderem das Schulwesen, die Polizei (die Region hatte ihre eigene „Polizei der Wojewodschaft Schlesien“) sowie die Landwirtschafts-, Bau- und zum Teil auch die Steuerpolitik. Als einzige Wojewodschaft Polens hatte Polnisch-Oberschlesien sein eigenes Finanzwesen und ein Regionalparlament, den Schlesischen Sejm, der in einem eigens zu diesem Zweck erbauten monumentalen Gebäude – dem flächenmäßig größten Bau der Zweiten Polnischen Republik – tagte. Nach der Besetzung Polens durch Deutschland und die Sowjetunion wurde Polnisch-Oberschlesien im Oktober 1939 offiziell wieder dem Deutschen Reich einverleibt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es im neuen, kommunistischen Polen keinen Platz mehr für starke regionale Selbstverwaltungen. Schon 1945 hob der Landesnationalrat mit einem speziellen Dekret den Sonderstatus der Wojewodschaft Schlesien auf.
Für mehr als vier Jahrzehnte blieb das Thema in Polen ein Tabu. Schon ein Jahr nach dem Fall der Volksrepublik wurde 1990 aber die Bewegung für die Autonomie Schlesiens (Ruch Autonomii Śląska, RAŚ) gegründet, die sich eine Wiedereinführung des früheren Status´ der Region zum Ziel setzt. Zwischen 2010 und 2018 hatte die RAŚ ihre Repräsentanten im Kattowitzer Regionalparlament, dem Sejmik. Seit 2007 finden jeweils im Juli – um den Jahrestag der Verabschiedung des Verfassungsstatuts von 1920 – in Kattowitz sogenannte Autonomie-Märsche statt, an denen gewöhnlich mehrere Tausend Menschen teilnehmen. In diesem Jahr durften sich wegen des epidemischen Notstandes nur 150 Anhänger der Wiedereinführung der Autonomie Schlesiens versammeln.
Text: Dawid Smolorz