Tagungsbericht „Die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 ein Jahrhundert danach“

Bericht von Florian Paprotny, Ruhr-Universität Bochum

Am 11.-12. Juni 2021 fand im Haus Oberschlesien eine international besetzte wissenschaftliche Tagung statt.

Die Tagung wurde vom Kulturreferat für Oberschlesien, von der Stiftung Haus Oberschlesien und dem Oberschlesischen Landesmuseum anlässlich des 100. Jahrestags der Volksabstimmung in Oberschlesien ausgerichtet. Als Kooperationspartner beteiligten sich das IPN, Institut für Nationales Gedenken (Katowice/ Kattowitz), die Landeszentrale für politische Bildung NRW, das Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Berlin), das Gerhard-Hauptmann-Haus (Düsseldorf) und das Museum zu Gleiwitz (Gliwice/ Polen). Eröffnet wurde die Tagung durch Grußworte von Dr. David Skrabania, dem Kulturreferenten für Oberschlesien, Sebastian Wladarz, dem Vorsitzenden der Stiftung Haus Oberschlesien, Heiko Hendriks, dem Beauftragten der Landesregierung NRW für die Belange von deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern und Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales des Landes Nordrhein-Westfalen. Die zweisprachige (Deutsch und Polnisch) Tagung wurde simultan übersetzt und in beiden Sprachen auf YouTube live übertragen:

Eröffnung Deutsch:

Tag 1 Deutsch:

Tag 1 Polnisch:

Tag 2 Deutsch:

Tag 2 Polnisch:

Tag 1

Im ersten Themenblock ging es um die Neuordnung Europas nach 1918. Prof. Dr. Jörn Leonhard (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau) referierte über das Kriegsende aus gesamteuropäischer Perspektive mit Schwerpunkt auf dem Ideal der Selbstbestimmung und dessen Umsetzung nach 1918. Er wies auf die besondere Ausrichtung der Tagung hin, da die Geschichte des Ersten Weltkriegs nur selten so multiperspektivisch betrachtet würde: ein lokales Ereignis wie das Plebiszit habe eine bedeutende regionale, nationale wie auch internationale und sogar globale Ebene. Leonhard thematisierte die Auswirkungen des Ideals der nationalen Selbstbestimmung auf der Makroebene: Nicht nur in der multiethnischen Habsburger Monarchie oder im Osten des Deutschen Reiches wurde der Ruf nach Selbstbestimmung laut, sondern auch in den Kolonien der Siegermächte – was zu bitteren Enttäuschungen führte. So nahm zum Beispiel der später als Ho Chi Minh bekannte Nguyen That Thanh an einer Sitzung der französischen Sozialisten während der Versailler Friedenskonferenz teil. Aus dem Kriegsnationalismus und den enttäuschten Erwartungen, dem Gefühl, die eigenen Ziele auf der Konferenz nicht durchgesetzt zu haben, entstand ein revisionistischer Nachkriegsnationalismus, der in die Mitte der Gesellschaft rückte. Ferner kam es zu einer Ethnisierung der alltäglichen Lebensbereiche, die zu einem aggressiven Assimilationsdruck gegenüber den nationalen Minderheiten in den Nachkriegsstaaten führte. Die Auswirkungen der Idee des Selbstbestimmungsrechts zeigten sich nicht nur in Europa, sondern weit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz global, in der Dekolonialisierung Afrikas und Asiens und auch in den heißen Kriegen während der Zeit des Kalten Krieges, da die Verkünder dieser Idee ihr nicht gerecht wurden.

Dr. Guido Hitze (Leiter der Landeszentrale für politische Bildung NRW) beleuchtete die Nachkriegszeit aus der deutschen Perspektive. In Berlin sei man überrascht gewesen, dass die Zugehörigkeit Oberschlesiens zum Reich zur Disposition gestellt wurde: Oberschlesien war seit Jahrhunderten bei Preußen, nicht erst seit den polnischen Teilungen, und eine nationalpolnische Bewegung hatte es dort auch nie gegeben. Die Gründe lagen viel mehr in der Politik Frankreichs: Dieses hatte ein Interesse an einem schwachen Deutschland und einem starken Polen, um Deutschland in die Zange zu nehmen, und als Schild gegen den Kommunismus im Osten. Hitze weist darauf hin, dass die Ereignisse in den Jahren zwischen 1919 und 1921 in der deutschen Perspektive nicht so sehr verschmelzen wie in der polnischen. In Polen gehen sie als Beitrag der Oberschlesier zur polnischen Nationswerdung infolge der drei Aufstände auf, während sie in Deutschland in geteilter Perspektive betrachtet werden: als Vorgeschichte und Verlauf des Plebiszits, als Ergebnis des Plebiszits und als Bewertung vor allem des dritten Aufstandes sowie der Teilungsentscheidung des Völkerbundes.

Die polnische Perspektive wurde von Prof. habil. Ryszard Kaczmarek (Schlesische Universität Kattowitz) dargestellt: Für die polnische Historiographie seien die Aufstände das entscheidende Moment der Zeit von 1919–1921, und nicht die Volksabstimmung. Mit den Aufständen wurde der Anspruch Polens auf das Gebiet begründet, da sie als spontane Erhebungen der lokalen Bevölkerung bewertet wurden. Das Ergebnis der Volksabstimmung, welches mit ca. 60% zu 40% für Deutschland ausfiel, eignete sich dafür nicht. Es gäbe bis heute keine einzige polnische Monographie, die sich ausschließlich mit der Volksabstimmung beschäftige. Der erste polnische Autor, der über die Volksabstimmung schrieb, im Mai 1921, nannte das Plebiszit eine „Vergewaltigung des Willens der Bevölkerung“. Der für Polen schlechte Ausgang wurde auf deutschen Terror, die Intervention Großbritanniens und die Unfähigkeit der eigenen Diplomaten geschoben. Bis in die 1990er Jahre kam dem polnischen Historiker die Aufgabe zu, die polnische Außenpolitik zu begründen und den Anschluss Schlesiens nach 1945 zu legitimieren. Erst vor gut 20 Jahren habe sich dieser Blickwinkel geändert und die Instrumentalisierung der polnischen Geschichte ließ nach. Die Geschichte der Plebiszite könne nun mit dem gebührenden Abstand betrachtet und objektiv interpretiert werden.

Der nächste Block befasste sich mit weiteren Volksabstimmungen, die nach dem Ersten Weltkrieg stattfanden: Dr. Wilhelm Wadl (ehem. Direktor des Kärntener Landesarchivs) referierte über Kärnten, das zum Zankapfel zwischen Deutschösterreich und Jugoslawien wurde und schließlich an Österreich ging, trotz der mehrheitlich slowenischen Bevölkerung. Es waren auch vor allem die jugoslawischen Slowenen, die einen Anschluss wollten, während man in Belgrad andere Schwerpunkte setzte. Dr. Aron Mathe (Komitee für Nationales Gedenken, Budapest) sprach über das Plebiszit in Sopron, auf das Österreich und Ungarn Anspruch erhoben – letztlich gewann Ungarn. Florian Paprotny (Ruhr-Universität Bochum) beschäftigte sich mit den Plebisziten in Ost- und Westpreußen, deren für Polen ungünstiger Verlauf Warschau eine Warnung war und sich damit auch auf den Umgang mit dem Plebiszit in Oberschlesien auswirkte. Dr. Jiří Neminář (Museum des Hultschiner Ländchens, Hlučín/Tschechische Republik) beschäftigte sich mit der Entstehung des Hultschiner Ländchens, dessen Entstehung ein reiner Zufall gewesen sei. Die Grenzziehung zog sich über drei Jahre, bis 1923, und teilte letztlich sogar Dörfer in der Mitte. Die ausländischen Kommissare, die für die Grenzziehung zuständig waren, mussten vom tschechischen Staat unterhalten werden und kosteten mehr als der tschechische Regierungschef. Der Gebietsgewinn blieb weit hinter den Erwartungen zurück – und das ganz ohne Volksabstimmung. Bartholomäus Fujak (Internationales Bildungs- und Begegnungswerk, Dortmund) sprach über das Teschener Land, das ein Konfliktherd zwischen Polen und Tschechien war und ohne Plebiszit auf Geheiß der Pariser Botschafterkonferenz zwischen beiden Staaten aufgeteilt wurde, nachdem es sogar zu einem militärischen Konflikt gekommen war.
Bei den Beispielen wird deutlich, dass es in zahlreichen ethnisch-kulturellen Grenzregionen Europas nach Kriegsende häufig zu vergleichbaren Situationen kam, wenn eine national indifferente Bevölkerung vor die Wahl gestellt wurde, zwischen der Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Nationalstaat zu wählen. Die Anwendung des „nationalen“ Selbstbestimmungsrechts war in der Praxis hochproblematisch.

Die Alliierten standen im Fokus des nächsten Blockes. Dr. Karsten Eichner (Justus-Liebig-Universität Gießen) hielt fest, dass Oberschlesien für die meisten Teilnehmer der Pariser Friedenskonferenz eine Terra Incognita war. Andere geopolitische Themen standen im Vordergrund. Die Kenntnisse des britischen Premierministers Lloyd George über das Gebiet waren nur sehr oberflächlich. Im ersten Entwurf des Friedenvertrages sollte Polen ganz Oberschlesien zugestanden werden. Nach Protesten in Deutschland, aber auch in Großbritannien, setzte er sich für eine Volksabstimmung ein. Ein weiterer Grund war die Sorge, dass die Deutschen die Reparationen nicht würden zahlen können, wenn man ihnen Oberschlesien ganz wegnähme. Unterstützung fand Lloyd George beim amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, den er mit dem Verweis auf das von Wilson postulierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches schließlich auch für Oberschlesien gelte, für sich gewinnen konnte. Damit stand England konträr zu Frankreich, welches Interesse an einem möglichst starken Polen hatte. Nachdem die USA sich zurückzogen und in Großbritannien ein neuer Konflikt in Irland aufflammte, konnte England nur noch ein einziges Bataillon stellen, weshalb die entstandene Lücke von Frankreich und Italien gefüllt werden musste. Kurzfristig schickte England dann noch drei zusätzliche Bataillone, die aber wieder abgezogen werden mussten, da es im eigenen Land einen Bergarbeiterstreik gab. Letztlich war die Präsenz der Alliierten im Abstimmungsgebiet völlig unzureichend, um mit den Aufständen fertig zu werden. Nach dem zweiten Aufstand trat eine Reihe britischer Offizieren sogar aus Protest gegen Frankreichs parteiisches Verhalten zurück. Letztlich folgte aus London aber keine Reaktion, da zumindest aufgrund der Oberschlesienfrage ein Bruch mit Frankreich vermieden werden sollte. Beim Umgang mit dem Abstimmungsergebnis konnten sich beide Staaten erneut nicht einigen, weshalb nach dem dritten Aufstand die Entscheidung an den Völkerbund delegiert wurde. Trotzdem sieht Eichner die Volksabstimmung als Prototyp für spätere multinationale Einsätze in Krisengebieten.

Dr. Evelyne Adenauer (Universität Köln) referierte über die italienischen Truppen in Oberschlesien. Bei den Verhandlungen in Paris galten die Italiener als unkooperativ, sie machten keine „bella figura“. Der italienische Regierungschef Vittorio Emanuele Orlando trat auf „wie auf dem Wiener Kongress“. Für viele Italiener war der Erste Weltkrieg der vierte Krieg des Risorgimento, also ein Teil der Nationswerdung. Italien forderte Gebiete, die nicht mehrheitlich von Italienern bewohnt waren, z.B. Fiume, das im heutigen Kroatien liegt. Als Wilson signalisierte, dass Fiume nicht italienisch würde, verließen die italienischen Abgesandten, alle außer Silvio Crespi, die Konferenz. Während ihrer Abwesenheit fiel dann die Entscheidung zur Durchführung der Volksabstimmung in Oberschlesien. In der italienischen Öffentlichkeit setzte sich aufgrund des ausgebliebenen Erfolgs bei der Verhandlung der von Gabriele D`Annunzio geprägte Begriff des „verstümmelten Sieges“ durch. D`Annunzio besetzte später mit einer Truppe Freiwilliger Fiume. Die italienische Politik bezüglich Oberschlesien war eher wechselhaft, eine klar definierbare Haltung zur Oberschlesienfrage gab es nicht. Carlos Sforza, der italienische Außenminister, war eher polenfreundlich, ließ sich jedoch trotzdem nicht durch die von Polen angebotenen wirtschaftlichen Konzessionen beeindrucken. De Marinis, der der Interalliierten Kommission (IK) in Oberschlesien angehörte, wird als integer beschrieben und hatte ein schlechtes Verhältnis zu General Henri Le Rond, dem französischen Plebiszitkommissar und Vorsitzenden der IK. Le Rond hielt ihm Informationen vor und versuchte, ihn von den Entscheidungen auszuschließen. Von seiner eigenen Regierung fühlte er sich im Stich gelassen und fand sich schnell in der Rolle des Vermittlers zwischen Le Rond und dem englischen Plebiszitkommissar Oberst Percival wieder. Die im Gebiet stationierten italienischen Soldaten waren ziemlich jung und unerfahren, sie sahen den Einsatz als Abenteuer. Sie hatten ein gutes Verhältnis zu den Einheimischen, wobei ihnen die deutschgesinnte Bevölkerung stärker zugetan war. Es gab auch einige italienische Gefallene im Zuge der Aufstände – die Italiener waren die einzigen Besatzungstruppen, die auch tatsächlich gegen die polnischen Aufständischen kämpften und so ihrer Aufgabe nachkamen. „Treu dem Eid, treu dem Auftrag“ war der Wahlspruch des italienischen 135. Infanterieregiments, das während der Abstimmungszeit in Oberschlesien stationiert war. Diesem wurden sie gerecht und schützten mit den nötigen Mitteln, aber möglichst wenig Waffengebrauch, die lokale Bevölkerung.

Dr. Sascha Hinkel (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) befasste sich mit der Position des Vatikans gegenüber der Oberschlesienfrage. Oberschlesien gehörte kirchenrechtlich zum Fürstbistum Breslau. Am 21. November 1920 verbot der Breslauer Fürstbischof, Adolf Kardinal Bertram, dem ihm unterstehenden katholischen Klerus die politische Meinungsäußerung von der Kanzel. Wie kam es dazu? Für Polen war Bertram, der schon immer eng mit den deutschen Behörden zusammengearbeitet hatte, ein „Germanisator“. Was die nationalpolnische Betätigung anging, war Bertram definitiv ein Hemmschuh, weshalb man von polnischer Seite aus versuchte, den Vatikan dazu zu bewegen, ihm die bischöfliche Jurisdiktionsgewalt für Oberschlesien zu entziehen und einen unabhängigen apostolischen Vikar zu benennen. Bertram wies darauf hin, dass das Erfüllen dieser Bitte von den deutschen Katholiken als eine Stellungnahme für Polen gesehen werden würde, womit er den Heiligen Stuhl, für den das Gebot der Unparteilichkeit galt, überzeugte, der sich daraufhin hinter ihn stellte. Der Vatikan hatte ein Interesse am Fortbestehen des Deutschen Reiches, um eine Hegemonie des laizistischen Frankreichs zu verhindern. Es wurde ein Kompromiss vorgeschlagen, mit dem Bertrams bischöfliche Autorität gewahrt bleiben sollte. Der Heilige Stuhl setzte Achille Ratti, den Nuntius der katholischen Kirche in Polen, als Oberkommissar für Kirchenfragen ein, machte ihn jedoch nicht zum apostolischen Administrator, womit ein Kompetenzgerangel mit Bertram begann. Das zeigte sich am Konflikt darum, ob Bertram als zuständiger Bischof nach Oberschlesien einreisen dürfe, um Firmungen vorzunehmen. Frankreich verweigerte ihm die Einreise, Ratti schloss sich an. Bertram warf ihm vor, sich instrumentalisieren zu lassen. Daraufhin erließ Betram den schon erwähnten Erlass. Der Heilige Stuhl gab sein Einverständnis, nachdem Bertram ihm die dramatische Lage in Oberschlesien geschildert und das Gespenst des Bolschewismus an die Wand gemalt hatte. „Mit der Approbation des Heiligen Stuhls“ verbot er also am 21. November 1920 die politische Betätigung für auswärtige Geistliche und den Diözesanklerus, falls keine Zustimmung des zuständigen Pfarrers vorläge. Das führte zu einer Verärgerung Polens gegenüber dem Vatikan, mit der man dort nicht gerechnet hatte. Kardinalstaatssekretär Pietro Kardinal Gasparri sagte, er hätte dem Erlass zwar zugestimmt, habe ihn aber nicht „mit der Approbation des Heiligen Stuhls“ veröffentlicht sehen wollen. Außerdem habe man nicht gewusst, dass die meisten Pfarrer Deutsche seien, wodurch nun ein Ungleichgewicht entstanden sei. Daraufhin wurde der Auditor der Wiener Nuntiatur, Ogno Serra, als Kommissar für das oberschlesische Abstimmungsgebiet eingesetzt. Er gab einen neuen Erlass heraus und verbot nun allen Geistlichen die politische Betätigung. Achille Ratti wurde nach Rom zurückgerufen und zum Bischof von Mailand gemacht, bevor er dann 1922 Papst wurde.

Tag 2

Der zweite Tag war eingeteilt in fünf Blöcke. Dr. James Bjork (Kings College London) begann mit einem Vortrag über die Flüchtigkeit der nationalen Haltungen im Vorfeld des Plebiszits. Er führte aus, dass die meisten Oberschlesier sowohl polnisch- als auch deutschsprachige Informationsquellen nutzten. Ferner hatte auch jeder Freunde oder Familienmitglieder, die der je anderen nationalen Seite zugeneigt waren. Die Abstimmung trennte die Oberschlesier nicht einfach voneinander, vielmehr entstand auch eine gemeinsame Öffentlichkeit. Nicht die Wahl der einen oder anderen Nationszugehörigkeit am 20. März, sondern die Monate des Abwägens bis dahin seien das Prägendste für die Oberschlesier gewesen.

Dr. Benjamin Conrad (Humboldt-Universität zu Berlin) beschäftigte sich mit dem Zustandekommen des Abstimmungsergebnisses und der Rolle der Emigranten dabei. Er wies darauf hin, dass bei den offiziellen Zahlen zum Abstimmungsverhalten der Emigranten, die Korfantys Abstimmungskomitee bekannt gab, Unstimmigkeiten nachweisbar sind, die die polnische Historiographie nach 1945 übernahm und die bis heute rezitiert werden. Die genauen Zahlen sind heute schlicht nicht mehr feststellbar. Die Emigranten stimmten mehrheitlich für Deutschland. Interessant ist auch, dass es die Bewohner der westoberschlesischen Kreise zur Arbeitsmigration nicht ins oberschlesische Industrierevier zog, sondern weiter nach Westen, weshalb es in den westlichen Kreisen einen besonders großen Einfluss auf das Wahlergebnis durch ihre Rückkehr gab. Von den neun westlichen Abstimmungskreisen stimmte nur einer mehrheitlich für Polen. In der anschließenden Diskussion wandte Dr. David Skrabania ein, dass es auch aus den mehrheitlich für Polen stimmenden Kreisen Rybnik und Pless seit 1870 umfangreiche Arbeitswanderungen an Rhein und Ruhr gegeben habe, dennoch war hier das polnische Narrativ besonders ausgeprägt.

Dr. habil. Maciej Fic (Schlesische Universität Kattowitz) setzte die Abstimmung in Bezug zur Politik der Republik Polen. Die polnische Seite artikulierte auf der Friedenskonferenz wie selbstverständlich Ansprüche auf ganz Oberschlesien und empfand den Kompromiss der Durchführung eines Plebiszits als große Ungerechtigkeit. Es wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Abstimmung zugunsten Polens zu entscheiden. Das polnische Plebiszitkomissariat Wojciech Korfantys war auf seinem Höhepunkt 3000 Mann stark. Auch der polnische Klerus rief zur Abgabe der Stimme für Polen auf. Mit dem Ausgang des Plebiszits schließlich war man dann erst recht unzufrieden, weshalb vorgezogen wurde, den Weg der Waffengewalt zu gehen. Deswegen stehen in der polnischen Historiographie die Aufstände im Mittelpunkt.

Zbigniew Gołasz (Museum zu Gleiwitz, Polen) referierte über die polnische Unterstützung für den Abstimmungskampf. Es entstanden zahlreiche Unterstützungskomitees, die einen bedeutenden Geldbetrag sammelten. Ein wichtiges Komitee war beispielsweise der „Verein zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete“ in Krakau. Insgesamt war das Netz aus Unterstützern allerdings nicht so effektiv wie ihre Pendants in Deutschland.

Dr. Lutz Budraß (Ruhr-Universität Bochum) untersuchte die oberschlesischen Emigranten genauer, und zwar mit Schwerpunkt auf den preußischen Provinzen Westfalen und Rheinland. 1910 befanden sich dort laut Volkszählung rund 31.000 Personen, die im Regierungsbezirk Oppeln geboren waren. Die „Verbände heimattreuer Oberschlesier“ kümmerten sich darum, sie für die Abstimmung zu mobilisieren und organisierten auch ihre Überfahrt. Der Erfolg dieser Verbände bestand darin, den Oberschlesiern ein regionales Identifikationsangebot zu machen, nämlich einfach „Oberschlesier“ und „heimattreu“ zu sein. Damit wurde die nationalpolnische Agitation im Westen erschwert und die Oberschlesier an Deutschland gebunden. Gleichzeitig wurden mit der auf die Regionalität bezogenen Argumentation die nationalpolnischen Verbände im Ruhrgebiet geschwächt.

Dr. Andrzej Michalczyk (Ruhr-Universität Bochum) beschäftigte sich mit der langen Migrationstradition der Oberschlesier. Er verdeutlichte, wie die Arbeitsmigration zu einer Wohlstandssteigerung in der Heimat führte: Die Emigranten bauten sich z.B. neue, bessere Häuser. Damit änderte sich die Dorfelitenstruktur. Doch warum stimmten gerade die Emigranten aus den östlichen Kreisen, etwa Rybnik, für Polen? Sie versprachen sich bessere Aufstiegsmöglichkeiten im Bergbau, da sie aus dem Ruhrgebiet wussten, dass für sie als Oberschlesier an einer nicht allzu hohen Sprosse der Karriereleiter Schluss war.

Dr. Mirosław Węcki (Schlesische Universität Kattowitz/ Institut für Nationales Gedenken, Kattowitz) stellte den Aufbau des polnischen Plebiszitkommissariats dar, wobei deutlich wurde, wie gut strukturiert und organisiert es im Gegensatz zur deutschen Seite war. Es war voll ausgerichtet auf die Person Wojciech Korfantys. Dr. Guido Hitze übernahm die Präsentation des deutschen Plebiszitkommissariats, das an der Vielzahl der verschiedenen Organisationen, ihrer mangelnden Kooperation untereinander und einer fehlenden hierarchisch übergeordneten Koordination krankte. Dort bewunderte man insgeheim sogar Wojciech Korfanty und die von ihm aufgebaute und straff geführte polnische Organisation. Sein Pendant im deutschen Plebiszitkommissariat war Kurt Urbanek, der aber bei weitem nicht so viele Kompetenzen und Mittel hatte. Das deutsche Plebiszitkommissariat hatte vielmehr eine Verwaltungs- und Vertretungsfunktion gegenüber der IK. Am ehesten vergleichbar mit Korfanty ist Carl Spiecker, der der „Organisation Spiecker“ vorstand und offiziell eigentlich zur Bekämpfung der Bolschewisten eingesetzt war, aber faktisch einen Geheimdienst in Oberschlesien unterhielt und Geheimberichte nach Berlin schickte. Er war faktisch an keine rechtlichen Beschränkungen gebunden und war auch über die paramilitärischen Aktivitäten im Bilde. Er war aber auch für die deutsche Wahlpropaganda verantwortlich und kaufte zur Verbreitung Zeitungen auf oder gründete neue.
Dr. habil. Grzegorz Bębnik (Institut für Nationales Gedenken, Kattowitz) befasste sich mit der Struktur der polnischen paramilitärischen Verbände. Vom Turnverein Sokół über die Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska (Polnische Kriegsorganisation Oberschlesiens) unterstanden alle der Hauptkommandantur des Aufständischen-Heeres. Es gab allerdings durchaus Konflikte, zwischen Militär- und Zivilverwaltung, aber auch zwischen den Front- und den Geheimoffizieren. Mit den deutschen konspirativen und militärischen Verbänden beschäftigte sich Matthias Lempart (Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen): Die Freikorps bestanden aus Freiwilligen, weshalb ihre Kampfkraft höher war als die der regulären Reichswehreinheiten, da diese den „revolutionären Zersetzungserscheinungen“ nicht gewachsen waren. Auf Geheiß von Spiecker wurde von Heinz Hauenstein (Freikorpsführer) im Sommer 1920 eine Spezialpolizei gebildet, die Organisation Heinz. Das war eine Reaktion auf die Ereignisse des zweiten Aufstandes, in dessen Anschluss die deutsche Sicherheitspolizei aufgelöst worden war. Die Mitglieder der Spezialpolizei stammten aus mehreren Freikorps. Ihre Zentrale befand sich in Breslau, genau wie die der Organisation Spiecker. Die Organisation Heinz spionierte und spürte Munitionslager auf, führte aber auch Liquidationen durch. Alle Aufträge, die an sie ergingen, waren Spiecker bekannt. Die Organisation Heinz war ihm nicht offiziell unterstellt, sondern dem Selbstschutz Oberschlesien, damit im Falle eines Falles Spiecker, und damit die Reichregierung, nicht belastet werden konnten. Bereits hier zeigte sich der Antisemitismus der Freikorps, obgleich die jüdischen Oberschlesier faktisch alle deutsch gesinnt waren.

Prof. Dr. Waldemar Grosch (Pädagogische Hochschule Weingarten) präsentierte seine Auswertung der Plebiszitpropaganda und stellte heraus, welche Themen auf den jeweiligen Seiten besonders häufig aufgegriffen werden. Es wurde deutlich, dass wirtschaftliche Themen weit wichtiger als die Betonung des Volkstums waren. Dr. Jakub Grudniewski (Schlesische Universität Kattowitz) erläuterte die technischen Regularien der Volksabstimmung, also den Aufbau der amtlichen Struktur und die verwaltungstechnischen Herausforderungen der Wahlabwicklung. Die dort beschäftigten Personen waren um Neutralität und eine korrekte Abwicklung des Wahlvorganges bemüht, hatten jedoch ein illusorisches Bild von der Tragweite der Abstimmung: Sie rechneten damit, dass die Menschen ein Ergebnis zu ihren Ungunsten einfach akzeptieren würden. Marek Jurkowski (Schlesische Universität Kattowitz) analysierte den Verlauf der Abstimmung anhand der Meldungen in der Presse. Am Tag der Abstimmung wurden die Wahllokale um 8 Uhr geöffnet, in den Städten waren bereits Menschenmassen dort. Auf dem Lande kamen die Menschen erst gegen 9 Uhr, da es ein Sonntag war und sie zunächst die Messe besuchten. Der Tag wurde schon im Vorfeld in der Presse von beiden Seiten als historisches Ereignis gefeiert. Dawid Smolorz (Freier Autor und Journalist, Gleiwitz) interpretierte die Ergebnisse des Plebiszits. Er wies darauf hin, dass die Wahlbeteiligung bei 97,5% lag. Es wurden sogar Leute zum Wahllokal getragen, die dort nicht mehr aus eigener Kraft hinkamen. Das verdeutlicht die immense Bedeutung, die dem Plebiszit zugemessen wurde. Die Grenze, die gezogen wurde, war schließlich ein weitgehender Konsens – aber nicht etwa zwischen Polen und Deutschland, sondern den tatsächlich Entscheidungsbefugten.

Dr. Sebastian Rosenbaum (Institut für Nationales Gedenken, Kattowitz) beschäftigte sich mit den Reaktionen auf das Abstimmungsergebnis, den offiziellen wie inoffiziellen. Das Ergebnis war für die polnische Seite enttäuschend, was aber häufig nicht offen artikuliert wurde. Vielmehr wurde offiziell auf die noch ausstehende Entscheidung des Völkerbundes verwiesen. Korfanty verteidigte das Ergebnis, das ein „Sieg trotz des Terrors“ gewesen sei. In einer anderen Pressemitteilung verlautbarte Korfanty, jeder Pole stehe bereit, um die neue Grenze zu verteidigen. Auf der deutschen Seite sah man sich ebenfalls als Sieger und plädierte für den Verbleib ganz Oberschlesiens beim Reich, Oberschlesien sei unteilbar. Da sich die Entscheidung so lange hinzog, wurde vor allem die polnische Seite unruhig, was letztlich in den dritten Aufstand gipfelte.

Dr. Juliane Haubold-Stolle (Stiftung Berliner Mauer) ging auf die deutsch-polnische Erinnerungskultur ein und wies darauf hin, dass es wichtig sei, dass Tagungen wie diese stattfänden und über die verschiedenen Interpretationen von deutscher und polnischer Seite gesprochen wird. Das Verständnis von Nation und Nationalismus unterscheide sich in beiden Ländern. In Deutschland werde der nationalen Perspektive eher ausgewichen, es gäbe eine Tendenz zur Internationalität. Viele Deutsche hätten kein Verständnis für das Nationalgefühl der Polen. In Polen sei die Nation der Kern der Demokratie, die einzige Einheit, die Demokratie und Selbstbestimmung garantieren könne. Deswegen sei es wichtig, auf der wissenschaftlichen Ebene miteinander zu kommunizieren.

Podiumsdiskussion

Abgeschlossen wurde die Tagung mit einer Podiumsdiskussion. Es diskutierten Prof. Dr. Igor Kąkolewski (Direktor des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin), Prof. Dr. Jörn Leonhard, Prof. Dr. habil. Ryszard Kaczmarek und Dr. Guido Hitze. Die Moderation übernahm Dr. Andrzej Michalczyk. Es ging um den Vergleich von damaligen Volksabstimmungen und heutigen und Separationstendenzen. Gab es eine Option auf einen autonomen Staat Oberschlesien? Kąkolewski nannte die noch wenig thematisierte Schlonsaken-Bewegung, also die damals aktive Bewegung für ein autonomes Oberschlesien. Er zog eine Analogie zu den Masuren: Warum stand z.B. beim Plebiszit in Ostpreußen nicht „Deutschland“ auf der Karte, sondern „Ostpreußen“? Das appellierte zwar an die regionale Identität, trotzdem zweifelt er nicht an der Treue sowohl der Oberschlesier als auch der Masuren zu Preußen: Es gab eine starke Bindung an die preußische Tradition und Staatlichkeit. Im September 1922 gab es eine Abstimmung um mehr Autonomie für die Provinz Oberschlesien, also um eine Ausgliederung aus dem Land Preußen auf Reichsebene. 90% lehnten die Abtrennung von Preußen ab. Für eine oberschlesische Republik gab es etwa 40.000 Befürworter (Abonnenten der Zeitung der Autonomiebewegung), ansonsten wurde die Idee vor der Abstimmung kurzzeitig von den oberschlesischen Industriellen vertreten, aber nur aus Angst vor einem Anschluss an Polen. Dr. Guido Hitze merkte an, dass ein freies Oberschlesien ein Zankapfel zwischen Tschechien und Polen gewesen wäre, und außerdem als Staat nicht lebensfähig. Es fehlte die wirtschaftliche Grundlage, es gab keine intellektuelle Elite. Die Idee war eine politisch motivierte Momentaufnahme, aber ein richtiges Zuhause hatte sie in der Politik nicht. Die großen Parteien waren eigentlich alle dagegen, nur das Zentrum stand dem Gedanken kurzzeitig offen gegenüber, allerdings drängte Carl Ulitzka die Freistaatanhänger aus der Partei, da er die Autonomie innerhalb des Deutschen Reichs anstrebte und keine Trennung vom Reich. Jörg Leonhard betonte, dass weder Wilson noch Lenin das Entstehen von vielen Kleinststaaten im Sinn hatten. Denn diese würden ein Sicherheitsrisiko darstellen und von den umliegenden Mächten absorbiert werden. Es gab bei den Verhandlungen in Paris das Stichwort der „Verschweizerung“, die um jeden Preis vermieden werden sollte. Prof. Dr. habil. Ryszard Kaczmarek warf ein, dass wenn es noch heute schwierig sei, den Unterschied zwischen Separatismus und Autonomie zu verstehen (er erzählte zuvor von einem polnischen Journalisten, der ihn interviewt und den Unterschied nicht gekannt hatte), wie war es dann damals? Es sei eine hoch intellektuelle Diskussion gewesen; von denen, die darüber sprachen, wusste kaum einer, was wirklich die Folgen einer Sezession gewesen wären. 1919 war das einfach kein Thema für den einfachen Oberschlesier. Beim Plebiszit sei auch eigentlich nicht nach der Nationalität gefragt worden, sondern nach einer Entscheidung für einen Staat – dabei spielten, wie deutlich wurde, eher wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle.

Ein weiterer Themenbereich war der Umgang mit Minderheiten. Prof. Kąkolewski wies darauf hin, dass mit den Plebisziten in den 1920er Jahren auch zahlreiche Minderheiten erschaffen wurden, z. B. die Deutschen in Polen. Es gab zwar eine Verpflichtung zum Minderheitenschutz, ihre Durchsetzung erwies sich jedoch als schwierig und die Situation verschärfte sich in der Zwischenkriegszeit immer weiter. Dr. Michalczyk warf ein, dass die Volksabstimmung und der Minderheitenschutz komplett neue politische Instrument waren: In den 1920ern wurden Ideen geboren, die heute in der EU noch umgesetzt werden und unsere Lebenswelt wie selbstverständlich prägen. Dass es damals nicht funktionierte, sei auch ein Ergebnis der Weltwirtschaftskrise, die den Lernprozess der Staaten und die Entwicklung dieser Instrumente unterbrach. Wie wichtig wirtschaftliche Gesichtspunkte waren, wurde schon durch den Wahlkampf und das Wahlverhalten im oberschlesischen Plebiszit deutlich. Jörg Leonhard betonte, dass es sowas in Ansätzen schon vorher gab, der springende Punkt aber sei, dass das „Selbstbestimmungsrecht“ globalisiert wurde: Jetzt durfte sich theoretisch jeder darauf beziehen, auch außerhalb von Europa, viele Zeitgenossen waren verwundert – sie fragten sich, was die Kriterien für das Zugeständnis der Selbstbestimmung sind. Die Iren beriefen sich auf das Selbstbestimmungsrecht, sie wurden jedoch nicht zur Pariser Friedenskonferenz eingeladen. Es gab deswegen bis 1923 einen Bürgerkrieg. Ihnen wurde sogar ein Plebiszit angeboten, dass jedoch abgelehnt wurde, weil der Bürgerkrieg sonst noch stärker eskaliert wäre. Es gab eine starke Desillusionierung: Die Polemik gegen die Self Determination wurde so schließlich in der Weimarer Republik auch zur Diskreditierung der Demokratie benutzt, man sei von Wilson verraten worden, hieß es. Dadurch sei die Möglichkeit, einen liberalen Internationalismus politisch salonfähig zu machen, erheblich eingeschränkt worden. Leonhard schloss die Diskussion mit einem Zitat von Reinhard Koselleck: „Am Ende dieser Geschichte bleibt es dabei, man muss die Toten betrauern und die Unterschiede muss man verstehen und aushalten.“ So müsse man die verschiedenen Perspektiven (deutsch, polnisch, tschechisch) auf ein Ereignis aushalten, man dürfe sie nicht nivellieren und vorschnell in ein Narrativ gießen.