Wie deutsch ist die polnische Sprache?

Kierat, ratusz und rajtuzy 

Deutsch ist neben Latein und Französisch die Sprache, die im Laufe der Jahrhunderte den polnischen Wortschatz am meisten beeinflusste.

Abgesehen vom umgangssprachlichen „Penunze“ (von „pieniądze“) oder „Motek“ (von „młotek“) gibt es im Deutschen nur wenige (je nach Interpretation drei bis sieben) weitere Entlehnungen aus dem Polnischen. Zu den bekanntesten gehören „Gurke“ und „Grenze“. Das polnische „Große Fremdwörterlexikon“ (Wielki Słownik Wyrazów Obcych, Verlag PWN) nennt dagegen ca. 3.000 (!) Germanismen, die im Polnischen verwendet werden. Offensichtlich war das jahrhundertelange deutsch-polnische Zusammenleben zumindest in diesem Bereich nicht von einem Austausch, sondern vielmehr von einem einseitigen Einfluss geprägt.

Auf Deutsch „Dach“ und „Rinne“, auf Polnisch „dach“ und „rynna”. Quelle: Wikimedia Commons,  Agnete.

Die erste große „Welle“ der deutschen Worte wurde bereits im Mittelalter dank der deutschen Siedler ins Polnische aufgenommen. Die Deutsche Ostkolonisation beschränkte sich ja nicht nur auf Schlesien, Pommern und Ostpreußen, sondern umfasste zum Teil auch Gebiete, die heute als urpolnisch gelten – zum Beispiel die Region Kleinpolen mit der früheren Hauptstadt Krakau/ Kraków. Obwohl die mittelalterlichen Entlehnungen akustisch und grafisch oft stark an das deutsche Original erinnern, werden sie von den meisten polnischen Muttersprachlern heute überhaupt nicht als Fremdwörter empfunden. Zu dieser Gruppe zählen u. a. „dach“ (Dach), „rynna“ (Rinne), „jarmark“ (Jahrmarkt), „szpital“ (Spittal), „warsztat“ (Werkstatt), „rycerz“ (Ritter), „kształt” (Gestalt) und „pech“ (im Sinne: Pech haben). Ähnlich verhält es sich mit vielen Worten aus dem Verwaltungsbereich. Da im Mittelalter die Städte in Polen häufig nach deutschem Recht und nach deutschem Muster organisiert und dazu teilweise von Deutschen besiedelt waren, beeinflusste das deutsche Vokabular in einem starken Maße auch dieses Gebiet, um nur Worte zu nennen wie „burmistrz“ (Bürgermeister), „gmina“ (Gemeinde), „ratusz“ (Rathaus), „wójt” (Vogt), „sołtys” (Schultheiß)“ oder auch „żołnierz” (Soldat, von: Sold, Söldner).

Nicht als „Hamsterrad“, sondern als „kierat“ (Kehrrad) bezeichnet man auf Polnisch ein von Routine geprägtes Leben. Quelle: Wikimedia Commons, Rj1979.

Es gibt im Polnischen wohl nicht viele Bereiche, die von dieser linguistischen Entwicklung unberührt blieben. Was ein überarbeiteter Deutscher als „Hamsterrad“ bezeichnet, nennt der Pole „kierat“, meistens ohne zu wissen, dass er dabei das nur leicht modifizierte deutsche Wort „Kehrrad“ verwendet. Auch bei „rajtuzy“ (Strumpfhose) denkt zwischen Oder und Bug niemand an „Reithose“. Einige Entlehnungen weisen eindeutig auf die Urheimat der mittelalterlichen deutschen Siedler hin. Wenn ein Pole eine rothaarige Person sieht, so spricht er in Bezug auf ihre Haarfarbe nicht von „czerwony“ (rot), sondern von „rudy“, was unverkennbar das in westdeutschen Dialekten bis heute verwendete „rut“ in Erinnerung ruft. Viele Polen würden zudem staunen, wenn sie erfahren würden, dass selbst der Name eines ihrer bekanntesten Nationalgerichte einen mittelniederdeutschen Ursprung hat. Denn die Bezeichnung „żur“ bzw. „żurek“ für eine saure Mehlsuppe, die fast in jedem Restaurant des Landes angeboten wird, leitet sich von „sūr“ (sauer) ab.

Das polnische „rajtuzy“ für „Strumpfhose“ leitet sich von dem deutschen Wort „Reithose“ ab. Quelle: Wikimedia Commons, D Sharon Pruitt.

Die friedliche sprachliche Expansion des Deutschen lässt sich auch heute, im Zeitalter der absoluten Dominanz des Englischen beobachten. Eine der jüngsten Entlehnungen ist beispielsweise „szyberdach“ (Schiebedach). Dadurch wird eindeutig auf die Richtung hingewiesen, auf die sich der polnische Automarkt orientiert. 

Aus „Rathaus“ oder noch wahrscheinlicher aus „Rathuus“ ist das polnische „ratusz“ geworden. Quelle: Wikimedia Commons,  Silar.

Text: Dawid Smolorz