Bericht über das Schlesien-Kolloquium 2022

Elf Themen wurden präsentiert und mit erfahrenen Wissenschaftlern diskutiert

Erstmalig fand das Schlesien-Kolloquium in Görlitz und online statt.

Die vom Kulturreferat für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz und vom Kulturreferat für Oberschlesien am Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen – in Kooperation mit der Stiftung Kulturwerk Schlesien in Würzburg – organisierte Veranstaltung fand dieses Jahr in ihrer sechsten Auflage am 28. und 29. Oktober 2022 im Schlesischen Museum zu Görlitz statt. Gefördert wurde das Kolloquium durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Freistaat Sachsen über die Sächsische Aufbaubank im Rahmen des Programms „Kultur Erhalt“.

Filip Schuffert, Anežka Brožová, Nikolas Weyland, Zora Piskačová und Ole Bunte (hier nicht im Bild) haben am Schlesien-Kolloquium 2022 online teilgenommen.

Das Ziel dieser jährlich stattfindenden Kolloquien, Forschende zu Schlesien aus unterschiedlichen Ländern einander näherzubringen und zu vernetzen, ging voll auf, indem insgesamt elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland, Polen, Tschechien und – dank der Möglichkeit einer virtuellen Zuschaltung – auch den USA ihre Forschungen präsentierten. Dabei handelte es sich um Masterarbeiten, Dissertationen und Forschungsprojekte von Postdocs.

Die gemeinsame Diskussion über die verschiedenen Qualifikationsstufen hinweg gelang dann besonders gut, wenn sich die Präsentierenden darauf einließen, ihre methodische Herangehensweise offenzulegen und zur Diskussion zu stellen.

Als Mentor hat Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław am Kolloquium teilgenommen.

So heterogen die Themen auch waren, so lassen sie sich doch hinsichtlich ihrer theoretischen Ansätze zu ein paar wenigen Strängen bündeln. Sehr präsent waren Fragen zur Erinnerungskultur, was nicht überrascht, bietet sich diese Herangehensweise doch für Regionen mit vielen drastischen Regimewechseln und damit einhergehendem Bevölkerungsaustausch besonders an.

Robert Piotrowski aus Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) promoviert über das “(un-)nötige Gedächtnis” seiner Stadt zwischen der deutschen Vergangenheit, Repolonisierung und Entkommunisierung. Mit ihm waren wir kurz außerhalb Schlesiens.

So fragte etwa Robert Piotrowski (Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław), für welche Identitätseinheiten Landsberg, das heutige Gorzów Wielkopolski, ein Gedächtnisort war oder sein kann – anknüpfen ließe sich dabei an Schlesien, Pommern, Brandenburg oder Großpolen.

Marek Szajda (Universität Wrocław) stellte das 840-Jahr-Jubiläum von Jelenia Góra (Hirschberg) von 1948 in den Mittelpunkt seiner Präsentation und arbeitete das Spannungsfeld zur bereits gut untersuchten Erinnerungskultur Wrocławs (Breslaus) heraus.

Die erste Präsentation im Programm des Schlesien-Kolloquiums und die einzige in englischer Sprache. Marek Szajda aus Wrocław (Breslau) stellt sein Forschungsprojekt “Im Schatten der Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete. Das Jubiläum 840 Jahre Jelenia Góra (Hirschberg) und die Riesengebirgstage im Jahre 1948. Sozialer, politischer und historischer Kontext.”

Identitätsfragen stellen sich bis heute auch insbesondere im Hultschiner Ländchen (Hlučinsko, Kraj Hulczyński), über das Anežka Brožová (Karlsuniversität Prag) sprach. Durch die Umordnung zwischen Preußen bzw. dem Deutschen Reich und der neuen Tschechoslowakei bildete es ein besonderes Gebiet, in dem die deutschsprachige Bevölkerung nach 1945 zudem nur zu einem geringen Teil vertrieben wurde. Auch die Vorstellung des Forschungsprojekts über die Renovierung eines Breslauer Straßenbahnwaggons von Dr. Tomasz Sielicki (Wrocław) beschäftigte sich mit Erinnerungsfragen – mit Überlegungen also, welche und wessen Bedürfnisse dieses historische Re-Enactment anspricht.

Dr. Tomasz Sielicki stellt sich vor. Am zweiten Tag des Kolloquiums berichtete er über die Rettung und neue Nutzung des einzigen in der Stadt Wrocław (Breslau) verbliebenen Straßenbahnwagens aus dem Jahre 1901 als Beispiel für den zukunftsorientierten Umgang mit dem materiellen und kulturellen Erbe Schlesiens. SILESIA News berichtete über das Projekt.

Während diese Aspekte von Erinnerungskultur bis in die jüngste Geschichte reichen, lässt sich auch die Frage nach der Formung von Geschichtsschreibung zu jedem beliebigen Zeitpunkt hier einreihen – wie sie Damian Szawczik (Philologische Hochschule/Hochschule für Bankwesen Wrocław) in seiner Masterarbeit am Beispiel der Chronik von Josef Wittig über Neurode (Nowa Ruda) untersuchen möchte. Die Betonung der Industrialisierung wird hier zu einem wichtigen Element der Erinnerungskultur.

Ein anderer Strang kreiste um das Zusammenleben der unterschiedlichen Sprachgruppen. Auch dies ist ein Aspekt schlesischer Geschichte, der sich vom Mittelalter bis zur Gegenwart untersuchen lässt und insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert von besonderer Brisanz war. Zora Piskačová (University of North Carolina at Chapel Hill) sprach über die „zerrissenen“ Städte Cieszyn und Česky Tĕšín nach 1920 und wie sehr diese über die neue Staatsgrenze zwischen der Tschechoslowakei und Polen und die unterschiedliche Sprachzugehörigkeit hinweg kooperierten. In diesem Fall handelte sich um Sprachgruppen, die schon länger neben- und miteinander gelebt hatten. Anders verhielt es sich bei den sogenannten „Ruhrpolen“ als migrantische neue Bevölkerung im rheinischwestfälischen Industriegebiet, die Nikolas Weyland (Harvard University) ins Zentrum seiner Untersuchung stellte. Dabei fragte er danach, wie sich „deutsche“ Beamte gegenüber den polnischen Migranten verhielten. Beide Referenten grenzten sich sowohl vom älteren Ansatz von Gewalt und kämpferischem Gegeneinander von „Ethnien“, aber auch von neueren Ansätzen ab, etwa von Pieter Judson, der der Kategorie „Nation“ oder „Ethnie“ kaum mehr Bedeutung zumisst. Stattdessen plädierten sie für einen intersektionellen Ansatz, in dem der Kategorie „Nation“ zwar noch ein Platz in der Analyse eingeräumt wird, aber in enger Verflechtung mit anderen Kategorien, wie etwa sozialer und geografischer Herkunft oder Konfession.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 6. Schlesien-Kolloquiums im Schlesischen Museum zu Görlitz.

Größeres Gewicht auf diese weiteren Aspekte, abseits von Sprachenzugehörigkeit, legten Knut Bergbauer (Bergische Universität Wuppertal) und Filip Schuffert (Universität Gießen) in ihren Präsentationen. Im ersten Fall ging es um einen differenzierten Blick auf die Breslauer jüdische Jugendbewegung, der ihre Heterogenität sichtbar machte. Im zweiten Fall stand die Kategorie soziale Herkunft im Fokus – am Beispiel der Arbeitersiedlung Gieschewald und die Frage, inwieweit ihre Bewohner nach bürgerlichen Werten erzogen werden sollten.

Sehr aktuelle Ansätze verfolgten sowohl Dr. Aleš Verner (Goethe Universität Frankfurt am Main) als auch Ole Bunte (Universität Bielefeld). Aleš Verner präsentierte sein umfassendes Editionsprojekt des Nachlassinventars von Caspar Schwenckfeldt, dem Stadt-, Bade- und gräflichen Leibarzt, den er in der schlesischen „Gelehrtenrepublik“ verortet und damit Fragen der Wissenszirkulation nachgeht. Ole Bunte hingegen untersuchte die frühen schlesischen Kriege unter dem Aspekt der symbolischen Kommunikation.

Zugleich bildeten diese beiden Vorträge ein frühneuzeitliches Gegengewicht zu den anderen sehr zeitgeschichtlich orientierten Präsentationen. Spannend bleibt die Frage, ob sich die theoretischen Herangehensweisen auch austauschen und fruchtbar machen ließen – etwa Erinnerungskultur und das Miteinander von Sprachgruppen für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit zu untersuchen sowie nach Wissenszirkulation im 20. Jahrhundert und der symbolischen Kommunikation in den Weltkriegen zu fragen. Oder macht es gerade einen Aspekt von Erinnerungskultur aus, dass sie brisant und daher sehr gegenwärtig sein muss, um interessant zu sein und sind die Weltkriege vielleicht noch zu nah, um sie auf eine symbolische Dimension zu reduzieren? Der Forschung würde die zeitliche Ausweitung der Perspektiven jedenfalls guttun.

Text: Prof. Dr. Ellinor Forster, Universität Innsbruck
Fotos: Jacek Jankowski

Hinweis: Das komplette Programm des Kolloquiums mit allen seinen Themen und Teilnehmern finden Sie hier.

Das nächste Schlesien-Kolloquium wird am 27.-28. Oktober 2023 im Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen stattfinden. Anmeldungen (mit einem Lebenslauf und Exposé) sind laufend möglich unter abormann@schlesisches-museum.de (Niederschlesien) oder skrabania@oslm.de (Oberschlesien).

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