Buchempfehlung: “Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise”

Mit einem 55-PS-Opel von Bonn nach Krakau – aus dem ungewöhnlichen Leben des Dr. Hans Kramarz

Eine Empfehlung von Marton Szigeti vom Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen.

„Was hast Du jetzt schon wieder ausgegraben?“ Mit diesen Worten unseres damaligen Kulturreferenten und heutigen Museumsdirektors Dr. David Skrabania begann vor knapp drei Jahren ein „Recherche-Krimi“ quer durch die jüngere deutsche Geschichte, der zwei Jahre später aufgearbeitet und reichhaltig illustriert als Buch veröffentlicht wurde.

Seit Jahrzehnten füllen sich die Magazinregale der Stiftung Haus Oberschlesien in Ratingen-Hösel mit den Hinterlassenschaften und Erinnerungsstücken der in der Bundesrepublik lebenden oberschlesischen Familien. Große und kleine Dinge des Lebens, die einstmals so wichtig erschienen, dass man sie 1945 vor dem Verlust rettete, oder in späteren Jahren als Erbstück im Umzugsgepäck in eine neue Heimat mitnahm. Nur ein Bruchteil davon schafft es in eine Museumsvitrine des Oberschlesischen Landesmuseums um einen Besucher zu erfreuen, alles andere bleibt unangetastet im Dunkel der Lagerräume.

Eines dieser vergessenen und wiederentdeckten Objekte ist eine Blechbox mit 150 glasgerahmten Farb- und Schwarz-Weiß-Dias. Die unbeschrifteten Bilder präsentieren nach einer ersten Sichtung am Leuchttisch eine Reise mit dem eigenen PKW über Breslau, nach Oberschlesien bis hin nach Krakau. Zahlreiche Städte zeigten sich im „Robotkameraformat“ 24x24mm noch immer in Trümmern: Ratibor, Neisse, Leobschütz – und das in Farbe! Auf die Identität des fotografierenden Touristen weist lediglich eine einzelne Notiz auf einem Zettel hin: „Dr. Hans Kramarz, Reise durch Oberschlesien 1956“. Wie so oft stellt sich wieder einmal die Frage nach der Quelle: Wer ist dieser Dr. Kramarz?

Suche nach dem Fotografen

Zahlreiche Telefonate führten zu nichts: Keines der langjährigen Mitglieder der Landsmannschaft der Oberschlesier (LdO) konnte sich an einen Dr. Kramarz erinnern. Dem einzigen Anhaltspunkt folgend, konnte ich den alten, bis 1956 gültigen Kennzeichencode des Opel Kapitän „R 680“, der Stadt Bonn zuordnen. Kurzerhand pickte ich mir schließlich den erstbesten heraus, der im Bonner Telefonbuch unter dem Namen Kramarz gelistet war. Gleich beim ersten Versuch hatte ich seinen Sohn Volkmar am anderen Ende der Leitung. Interessiert hörte er sich die Geschichte meines Fundes an, und wir begannen ein (erstaunlich) lockeres Gespräch rund um seinen Vater, die Oberschlesier und um dunkle Geheimnisse der Vergangenheit. Da auf den Dias immer wieder ein 1950er Opel Kapitän zu sehen war, fragte ich natürlich danach. Und siehe da, es passte. Volkmar hatte selbst keine Erinnerung mehr daran, er wurde 1954 geboren, aber seine älteren Schwestern sprachen immer von dem geräumigen Viertürer.

Kein Zweifel, Johannes Paul Ferdinand, genannt Hans, der am 1. Dezember 1909 in Buchatz (heute Buchacz) bei Radzionkau (Radzionków) geborene Sohn eines Lehrers, war „unser“ Fotograf. Über das Wie und Warum herrschte zunächst noch Unklarheit. Mit zahlreichen Informationen aus Hans’ Leben ausgestattet, begann kurz darauf die Suche nach weiteren Puzzlestücken seiner Biografie. Zwischenzeitlich sorgten einige Testscans bei unseren polnischen Archiv- und Museumskollegen für Aufregung: „Wir haben solche Aufnahmen nicht! So etwas war damals nicht erwünscht.“ Eigentlich benötigten wir „nur“ die Hilfe unserer Freunde in Oberschlesien, um die Bildmotive zu identifizieren. Während spontan ein deutsch-polnisches Kulturprojekt skizziert wurde, tauchten weitere Dokumente auf, die den frühen Lebensweg von Dr. Hans Kramarz tief in die Schaltstellen der Mächtigen des Dritten Reiches und später sogar in die Welt der Geheimdienste rückte. Die Büchse der Pandora war geöffnet! Bald kristallisierte sich nach und nach eine Geschichte heraus, die nicht nur die Sonnenseiten des Lebens darstellte, sondern auch tiefe Schatten und menschliche Tragödien.

Dr. Kramarz nimmt während seiner Vortragsabende in den 1960ern gerne eine lockere Haltung ein. Foto: Kramarz.

Als Kramarz sich am 3. September 1956 von seiner Frau und seinen sechs Kindern in Bonn verabschiedete, seinen 55-PS-Kapitän volltankte und in Richtung Osten aufbrach, mag er auf der langen Fahrt den einen oder anderen populären Schlager vor sich hin geträllert haben. Ein Radio gehörte längst noch nicht zur Standardausstattung. „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“, drei Jahre zuvor von Hans Albers zum Evergreen erhoben, wird er zur symbolträchtigen Überschrift Kramarz´ mehrwöchiger Reise nach Oberschlesien. Einfach mal eben nach Polen fahren? War das nicht etwas komplizierter? Steckte da etwas anderes dahinter? Um die Geschichte hinter der Geschichte der 1956er Reise zu verstehen, kommt man nicht umher, sein ereignisreiches Leben genauestens unter die Lupe zu nehmen.

Während sich in Oberschlesien Bogusław Tracz mit enormer Akribie der Identifizierung der 141 verwendeten Bildmotive widmete, und Adam Dziuba ein ausführliches politisches Bild des Jahres 1956 nachzeichnete, versuchte ich gemeinsam mit Volkmar Kramarz Fakten vom Hörensagen zu trennen und Unterlagen zusammenzutragen. Besonders hilfreich dabei waren die beiden beim polnischen Instytut Pamięci Narodowej (IPN, Institut für nationales Gedenken) aufbewahrten polnischen Geheimdienstakten zur Zielperson Hans Kramarz sowie die gedruckten Erinnerungen seiner Schwester Maria, die lange nach dem Tod des Bruders im Jahr 1997 veröffentlicht wurden. Mehrere Personalakten des Deutschen Roten Kreuzes aus seiner Bonner Dienstzeit der Jahre 1952 bis 1958 rundeten seine Biografie ab. Obwohl noch immer einiges aus der Welt der Geheimdienste ungeklärt bleibt, entführt das vorliegende Buch den Leser in einen historischen „Krimi“ der in Oberschlesien beginnt und im Rheinland endet:

Geboren 1909 im oberschlesischen Radzionkau, gestaltete der Lehrersohn Hans Kramarz sein Leben im Rahmen seiner jeweiligen politischen Realitäten: Radikalisiert durch die Reichswehr im geteilten Oberschlesien, Jurastudium, frühes NSDAP-Mitglied, SA-Obersturmführer, Stationen in der Dienststelle Ribbentrop, im Auswärtigen Amt, Führerhauptquartier, und bei der Bandenbekämpfung in Montenegro. Nach Kriegsende Internierung als „Insasse“ 9427 im US-CIC-Camp Moosburg, erste Kontakte mit der CIA, Mitarbeiter der Organisation Gehlen bzw. des BND. Daneben Familienleben mit sechs Kindern in Beuel, Jurist beim Roten Kreuz und Kulturreferent bei der Landsmannschaft der Oberschlesier. Die Welt der Geheimdienste und der per Radio übertragenen Zahlencodes wurde für den leidenschaftlichen Fotografen und „Ostspezialisten“ Kramarz zu einer neuen Lebensaufgabe.

Zahllose Diavorträge seiner „Studienreisen“ nach Polen, der Sowjetunion nach China oder den USA, fanden über Jahrzehnte stets gebannte Gäste.

Über Jahre durch ein Krebsleiden angeschlagen, stirbt Hans Kramarz am 3. Mai 1986 im Alter von 76 Jahren in seinem Heim in St. Augustin.  Sein alter Jugendfreund und Direktor des Landschaftsverbandes Rheinland Udo Klausa verfasste einen vierseitigen Nachruf, die Landsmannschaft der Oberschlesier würdigte ihn für seine „ausgewogene politische Sicht und seine Kenntnis großer Zusammenhänge im politischen Kräftespiel“. In Wort und Schrift setzte er sich mit seinen Tonbildschauen immer für eine Versöhnung des deutschen und polnischen Volkes ein.

Bogusław Tracz, der als Historiker für das IPN in Kattowitz/Katowice tätig ist, kommentiert Kramarz Dias mit folgenden Worten: „Sicher ist, dass die Fotografien, die Hans Kramarz erstellt hat, zusammen mit den Aufnahmen aus Breslau und Krakau ein einzigartiges Zeugnis einer Reise durch Oberschlesien und seine Umgebung im Jahr 1956 darstellen. Sie versetzen uns in eine heute sehr ferne, damals aber allgegenwärtige nachkriegszeitliche Realität zurück, als noch Ruinen neben den neu errichteten Wohnblocks und Mietshäusern standen und die alteingesessenen Bewohner neben den Neuankömmlingen lebten, die sich als Hausherren fühlten. Dieses neue polnische Oberschlesien befindet sich noch immer in statu nascendi – das Alte koexistiert mit dem Neuen und die Vergangenheit trifft auf die Gegenwart des kommunistischen Polens von 1956.“

Vergleich der in den 50er und 60er Jahren üblichen Diaformate: Robot-, Kleinbild-, Mittelformat. Montage M. Szigeti.

Produziert wurde das 228 Seiten starke Buch durch eine Kooperation mit dem Haus der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz/Gliwice und Oppeln/Opole und dem in Ratingen-Hösel ansässigen Kulturreferat für Oberschlesien.

Wer nun neugierig geworden ist, kann das Buch für 20 Euro plus Porto in dem Museumsshop des Oberschlesischen Landesmuseum erwerben.

Text & Bilder: Marton Szigeti,  Stiftung Haus Oberschlesien, Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen-Hösel