Im Begleitprogramm wird die Schau über die Teilung Oberschlesiens mit Vorträgen über ähnliche ethno-nationalistische Konflikte in Europa kontextualisiert
Interview mit den Kuratoren Dr. David Skrabania und Dawid Smolorz.
Das Interview entstand anlässlich der Sonderausstellung „Grenzgänger. Alltag in einem geteilten Land“ im Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen. Die Sonderausstellung gliedert sich in fünf Themenbereiche: Oberschlesien als südöstlichste Region des Deutschen Reiches, die Genfer Konvention für Oberschlesien, Kuriose Grenze, Oberschlesien als preußische Provinz und als autonome polnische Wojewodschaft und Erinnerungen an die Grenze in Oberschlesien. Die von der Kulturstiftung der Länder und dem Land Nordrhein-Westfalen geförderte Ausstellung wurde von Dawid Smolorz und Dr. David Skrabania kuratiert. Das Gespräch führte Katarzyna Lorenz.
Katarzyna Lorenc: Die Ausstellung „Grenzgänger. Alltag in einem geteilten Land“ ist eine Fortsetzung der Ausstellung „Polen oder Deutschland? Oberschlesien am Scheideweg“. Was ist hier neu, was in der vorherigen Ausstellung nicht erzählt wurde?
Dr. David Skrabania: In der vorherigen Ausstellung haben wir die Vorgänge rund um die Volksabstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921 thematisiert, ein epochales Ereignis für die Region und ein geopolitisch immens wichtiges für die europäische Nachkriegsordnung, insbesondere aufgrund der wirtschaftspolitischen Bedeutung der Region. Neben dieser globalhistorischen Einbettung wurden die propolnischen Aufstände in Oberschlesien sowie die damalige beiderseitige Propaganda und Gewalt problematisiert, die für den Zusammenhalt dieser über Jahrhunderte friedlich gewachsenen, mehrsprachigen Region so fatal waren. Die thematisch aufgebaute neue Ausstellung stellt chronologisch eine Fortsetzung der Plebiszit-Ausstellung dar; wir fragen danach, wie sich die infolge der Volksabstimmung und eines Beschlusses des Botschafterrates geteilte Region beiderseits der Grenze entwickelte.
Dawid Smolorz: Was wahrscheinlich jedem Besucher sofort auffallen wird, sind die vielen – aber nicht zu vielen – Multimedia, die unsere Ausstellung bereichern. Auf einem Multimedia-Tisch präsentieren wir zum Beispiel die territorialen Veränderungen in Mitteleuropa, bei denen Schlesien freilich die Hauptrolle spielt, sowie die Ergebnisse der Volksabstimmung von 1921 in allen Gemeinden Oberschlesiens. Ein wahrer Schatz ist das Album eines deutschen Zollbeamten, das ca. 70 Fotos aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre umfasst. Alle von ihnen kann man sich in der Ausstellung in elektronischer Form ansehen. Eine interessante Erfahrung ist überdies die filmische Begegnung mit Zeitzeugen, die das geteilte Oberschlesien noch miterlebten. Ich würde sagen, dank all dieser Elementen kann man in der Ausstellung sogar mehrere Stunden verbringen, man findet immer wieder etwas Neues.
Katarzyna Lorenc: Die Ausstellung wird durch ein umfangreiches Rahmenprogramm begleitet. Welche Veranstaltungsformate sind geplant und wird sich das Begleitprogramm ausschließlich auf Oberschlesien konzentrieren?
Dr. David Skrabania: Wir betrachten die Ausstellung als historisches Beispiel für Grenzlandkonflikte in Europa im 20. Jahrhundert, anhand dessen die Komplexität ethnischer Auseinandersetzungen und Möglichkeiten zu ihrer Beilegung und zur Sicherung von Minderheitenrechten diskutiert werden können. Im Rahmen unseres Vortragsformats Podium Silesia wird es sechs Begleitveranstaltungen zur Ausstellung geben, in denen andere, teils leider aktuelle Konflikte im Mittelpunkt stehen werden, wie der Krieg in der Ukraine mit einem Vortrag von Frau Prof. Dr. Kerstin Jobst von der Universität Wien am 27. April, oder der nicht enden wollende Balkankonflikt. Beginnen werden wir am 26. Februar mit einem Eröffnungsvortrag unter dem Titel „Friedensstrategien für ethno-nationalistische Konflikte“ von Dr. Thorsten Gromes vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Darüber hinaus wird es am 2./3. Juni eine internationale Konferenz in Ratingen geben, in der namhafte Wissenschaftler die Provinz Oberschlesien unter verschiedenen Aspekte unter die Lupe nehmen und mit der Rheinprovinz vergleichen werden, bei der es sich ebenfalls um ein stark vom Katholizismus geprägtes Grenzland handelte. Eine zweite Konferenz zum inneroberschlesischen Vergleich zwischen der Wojewodschaft Schlesien und der Provinz Oberschlesien nach der Teilung ist für den Spätherbst in Schwientochlowitz/Świętochłowice geplant. Partner wird das dortige Museum der Schlesischen Aufstände sein. Beide Veranstaltungen werden selbstverständlich für interessierte Besucher offen sein. Und natürlich wird es schon bald einen Begleitband geben, in dem nicht nur die Ausstellungsinhalte wiedergegeben, sondern in sieben zusätzlichen Artikeln – so etwa zum Alltagsleben an der Grenze, dem Konkurrenzgedanke in der Architektur oder der Erinnerung an die Grenze – vertieft werden.
Katarzyna Lorenc: Wie schon bei der vorherigen Ausstellung arbeiten Sie in einer deutsch-polnischen Partnerschaft und zeigen, dass die Teilung – zumindest was die architektonische Entwicklung betrifft – auch positive Aspekte hatte. Zu bestaunen sind aufwändig gefertigte 3D-Modelle von architektonischen Wahrzeichen. Erzählen Sie uns mehr über die innovative Lösung.
Dawid Smolorz: Der Umstand, dass es in der Zwischenkriegszeit gleichzeitig ein deutsches und ein polnisches Oberschlesien gab, wirkte sich auf einige Lebensbereiche positiv aus. Die Einwohner, für die die Grenze keine Barriere darstellte, konnten ja stets die Entwicklungen hüben und drüben vergleichen. So kam es zu einer Art Rivalität. Zwei Jahre nach der Inbetriebnahme des ersten oberschlesischen Rundfunksenders im deutschen Gleiwitz/Gliwice, nahm in Kattowitz/Katowice ein Sender von Polskie Radio seine Arbeit auf. Kurze Zeit nach der Eröffnung eines Flughafens in Deutsch-Oberschlesien, bekam auch der polnische Teil seinen Flughafen. Das wohl spannendste Feld, auf dem diese Rivalität stattfand, war aber die Architektur. Wir präsentieren in unserer Ausstellung sechs Modelle von beeindruckenden und repräsentativen Bauten, die zwischen 1922 und 1939 in der Region errichtet wurden. In dieser Auswahl konnten freilich solche Gebäude nicht fehlen, wie der Schlesische Sejm – das Regionalparlament Polnisch-Oberschlesiens, die St. Josefkirche, die als interessantester sakraler Bau gilt, der im 20. Jahrhundert in der Region entstand, und der Kattowitzer „Wolkenkratzer“, damals eines von zwei höchsten Gebäuden Polens.
Dr. David Skrabania: Gerade die Herstellung der 3D-Modelle war aufwendig und nervenaufreibend, denn nur der Pfarrer der St. Josefskirche in Hindenburg/Zabrze konnte uns alte Pläne bereitstellen. Von den anderen fünf ausgewählten Bauwerken lagen uns keine Bestandszeichnungen vor, um daraus CAD-Zeichnungen anfertigen zu lassen. Hier musste sich der Konstrukteur mit Informationen aus historischem Material und aus dem Internet behelfen. Glücklicherweise gibt es beispielsweise ein von der Geodäsie-Abteilung der Stadtverwaltung in Kattowitz/Katowice angefertigtes 3D-Modell der Stadt, dem sogar Gebäudemaße entnommen werden können. Für den Druck selbst konnten wir zwei M.A.-Studenten der Hochschule Rhein-Waal gewinnen, die in akribischer und langwieriger Kleinarbeit die einzelnen Komponenten druckten und zusammensetzten. Allein der Schlesische Sejm besteht aus 72 Elementen. Aufgrund der Größe und Komplexität der Bauwerke war an einen 3D-Komplettdruck nicht zu denken.
Katarzyna Lorenc: Neben der historischen Einbettung in die Vorgeschichte und den Folgen der Genfer Konvention für Oberschlesien war es Ihnen wichtig, auch das Alltagsleben und das kollektive Gedächtnis zu thematisieren. Ist dieser Ansatz bei der Vermittlung der Ausstellung hilfreich gewesen?
Dawid Smolorz: Der Untertitel „Alltag in einem geteilten Land” ist nicht zufällig. Es war unsere Absicht, die Region in einer Situation zu zeigen, die sich vor dem Sommer 1922 wohl niemand vorstellen konnte und die für alle neu war. Mit Texten, historischen Bildern und Zeichnungen wollten wir dem Betrachter von heute vermitteln, was die Grenzziehung für einen durchschnittlichen Einwohner Oberschlesiens bedeutete, dessen Arbeitsplatz auf einmal im Ausland lag oder dessen nächsten Verwandten über Nacht Bürger eines anderen Staates wurden. Einen besonderen Platz nehmen in der Ausstellung so genannte Grenzkuriositäten ein, das heißt die Stellen und Gegenden, wo die Grenze zum Beispiel quer durch Bauernhöfe verlief oder „Halbinseln“ bildete, die von mehreren Seiten vom fremden Staatsgebiet umgeben waren. Es gab damals wohl keine zweite Region in der Welt, in der man die Grenze unter Tage und in einer Straßenbahn passieren konnte.
Dr. David Skrabania: Ich denke, dass gerade in der musealen Vermittlungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein mikrohistorischer, alltagsgeschichtlicher Zugang, ergänzt um Beispiele konkret handelnder Protagonisten, das Verständnis für historische Zusammenhänge, für das große Ganze erhöhen kann. Wie wirken sich politische Entscheidungen auf hoher Ebene auf den Alltag des Normalbürgers aus? Welche Handlungsspielräume bleiben den einfachen Menschen? Wie sind Makro- und Mikroebene miteinander verflochten? Eine Ausstellung zu einem historischen Thema sollte auf derartige gegenwartsbezogene Fragen Antworten bieten können. Und auch die erinnerungsgeschichtliche Methodik findet bei uns zwingend Eingang in die museale Arbeit. Das kollektive Gedächtnis und die Art und Weise, wie eine Gesellschaft Historisches erinnert, sagt nämlich viel mehr über diese Gesellschaft aus, als über das Erinnerte. Insofern bildet für uns als außerschulischer Lernort eine kritische Auseinandersetzung mit dem kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft einen wichtigen Bestandteil unserer Ausstellungs- und Bildungsarbeit.
INFOBOX:
Grenzgänger. Alltag in einem geteilten Land
14. November 2022 – 18. Februar 2024
Oberschlesisches Landesmuseum
Bahnhofstraße 62 ∙ D-40883 Ratingen
Im eigens zusammengestellten Rahmenprogramm werden in einer Terminreihe ähnliche ethno-nationalistische Konflikte aufgegriffen. Nähere Informationen hierzu finden Sie unter www.oslm.de
Text: Katarzyna Lorenc
Das Interview wurde in „Schlesien heute” veröffentlicht.