Erinnerung an ein Kapitel deutscher und oberschlesischer Filmgeschichte
Über das Schicksal der ersten Verfilmung des berühmten Antikriegsromans von Erich Maria Remarque in Deutschland, u. a. in Oberschlesien.
Die jüngst Oscarprämierte Netflix-Neuverfilmung Im Westen nichts Neues erinnert 104 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erneut an das sinnlose Verheizen junger Männer beiderseits des Schützengrabens. Fast schon vergessen ist der Umstand, dass es bereits die dritte Verfilmung des Romanstoffes ist. Als vor 94 Jahren Erich Maria Remarque (1893–1970) die Filmrechte seines Antikriegsromans an den schwäbischen Boss der amerikanischen Universal Studios, Carl Laemmle Senior, verkauft hatte, sorgte der Streifen bereits vor seiner Berliner Kino-Premiere am 4. Dezember 1930 für so viel Ärger in Deutschland, dass er bereits nach einer Woche Spielzeit wieder aus dem Programm genommen werden musste und daher zunächst nicht in Oberschlesien zu sehen war.
Sorgte der 1929 veröffentlichte und in zwölf Sprachen übersetze Roman des Autors, der als Erich Paul Remark in Osnabrück geboren wurde, bereits für empörte Ablehnung bei den beiden politischen Rechten des Reichstages DNVP und NSDAP, fühlten sich auch die ehemaligen Frontkämpfer selbst erneut in ihrer Ehre gekränkt, da sie sich nach ihrer Heimkehr 1918 noch immer darum bemühten, ihrem einstigen militärischen Handeln einen tieferen Sinn zu geben. Das Trauma einer geschlagenen Truppe, die selbst von den eigenen Landsleuten in der Heimat bespuckt und beschimpft wurde, begleitete die, die einstmals mit einem „Hurra“ auf den Lippen von der Schulbank hinweg zu den Fahnen eilten ein Leben lang. Roman und Film waren entsprechend pures moralisches Gift für eine Reichswehr, die im Stillen bereits wieder an einer Aufrüstung arbeitete, Jahre bevor die Nationalsozialisten die Marschrichtung vorgaben.
Nachdem im Frühjahr 1930 alle Szenen im Kasten waren, begann zeitgleich mit der Endproduktion auch die internationale Vermarktung des neuesten Produkts der Universal Studios. Um die Anzahl der Filmkopien festzulegen, sorgten Vorankündigungen in den entsprechenden Ländern für ein frühzeitiges Stimmungsbild, das in Deutschland schnell kippte. Aufgrund der massiven Kritiken an der Romanveröffentlichung äußerte sich Laemmle gegenüber der US-Presse bereits im Sommer 1929 mit den folgenden Worten: „Eine der größten deutschen Filmtheater-Ketten UFA hat mir bereits mitgeteilt, dass sie mit dem Projekt nichts zu tun haben möchte, wenn unser Film in Deutschland gezeigt wird. So etwas habe es nie gegeben, schreiben ja die Kritiker in Deutschland, alles sei gelogen. Aber was soll es nie gegeben haben – den Krieg?! Wir haben das doch auch durchgemacht. Soll es den ganzen Schmutz nicht gegeben haben?! Da mussten wir auch durch. Und Einwände gegen das Kämpfen? Das Leiden hatten doch wohl beide Seiten gemeinsam. Ich bin sicher, wir werden einen ganz großen Film haben.“
Obwohl die Berliner Filmprüfstelle den Film in der deutschen Synchronisation am 21. November 1930 freigegeben hatte, waren die Möglichkeiten der Aufführung durch die Absage der UFA-Kinokette auf wenige unabhängige Lichtspieltheater begrenzt. Wer annimmt, die UFA hatte Bedenken, sich einen Ladenhüter einzukaufen, liegt völlig falsch. Die Entscheidung war rein politischer Natur, da die Universum-Film AG (UFA) unter anderem seit Fritz Langs finanziellem Fiasko und Kino-Flop Metropolis in eine Schieflage geriet und im März 1927 durch den allmächtigen Industrie- und Medienmogul Alfred Hugenberg (1865–1951) aufgekauft wurde.
Damit steuerte der Hugenberg-Konzern einen Großteil der nationalen Medien, da man bereits seit 1916 die Firmengruppe um den Scherl-Verlag kontrollierte, die, gemeinsam mit der Nachrichtenagentur Telegraphen-Union und der UFA, starke Werkzeuge im Kampf um die Meinungsbildung darstellten. Dazu kamen noch dutzende Firmenbeteiligungen wie z. B. an der Schlesischen Zeitung und der Oberschlesischen Tageszeitung. Hugenberg selbst lenkte als Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei von 1928 bis 1933 deren kaiserlich-monarchistischen Konservatismus, bevor er sich und seine Partei der NSDAP anschloss.
Höchst erstaunlich ist, dass Remarque als Redakteur ausgerechnet für die Hugenbergsche Sport im Bild arbeitete.
Gekrönt wird dies von der Tatsache, dass die Vossische in der Morgenausgabe am zehnten Jahrestag des Waffenstillstandes, am 11. November 1928, den ersten Teil des 25 Folgen langen Roman-Vorabdruckes Im Westen nichts Neues veröffentlichte. Da die Vossische zum linksliberalen Ullstein-Imperium und damit zum schärfsten Konkurrenten der Hugenberg-Gruppe gehörte, zog die Veröffentlichung den sofortigen Rausschmiss Remarques nach sich.
Aufgrund der vorherrschenden Stimmung in Deutschland und den damit verbundenen Aufführungsproblemen beschloss Laemmle kurzerhand die Gründung eines eigenen Firmennetzes von Kinotheatern und Filmverleih auf deutschem Boden aufzuziehen: Die Deutsche Universal-Film AG in Berlin. Am 21. Oktober 1929 gegründet, wurde sie am 4. März 1930 in das Berliner Handelsregister eingetragen. Der Gründungszweck lag auf der Hand: Herstellung und Vertrieb von Filmen, Erwerb und Betrieb von Kinotheatern und aller damit zusammenhängenden Geschäfte. Gleichzeitig entstand auch die Deutsche Universal-Verleih GmbH, um sich von dem durch die UFA dominierten Geschäft unabhängig zu machen.
Am 21. April 1930 erwartete die Welt mit Spannung die amerikanische Premiere des auf 140 Spielminuten geschnittenen Films, der in Los Angeles als „International Sound Version“, also ohne gesprochene Dialoge präsentiert wurde. Am 29. April folgte die Premiere des Tonfilms mit Dialogen in New York. Nach den weiteren Premieren im englischsprachigen Raum wie Großbritannien, Kanada und Australien, folgten ab August 1930 Erstaufführungen in Dänemark, Spanien und Frankreich.
Am Donnerstag den 4. Dezember 1930 war es dann endlich soweit. Die Deutsche Uraufführung des auf 124 Minuten gekürzten bzw. zensierten Filmes sollte vor den Augen handverlesener Gäste im Mozartsaal (Terra-Lichtspiele) des neuen Schauspielhauses in Berlin stattfinden. Die Vossische dazu: „Die fast sensationelle Spannung, die vor Beginn das Theater füllte, wandelte sich sehr schnell während des Abrollens in tiefe Erschütterung. Das Publikum, das noch in der Mitte des Films einigen Dialogen, die sich gegen den Krieg richteten, demonstrativen Beifall gespendet hatte, verließ zum Schluß das Haus still und im innersten aufgewühlt, unfähig, Beifall zu äußern. Noch nie hat ein Filmwerk so unmittelbar auf die Zuschauer und Zuhörer gewirkt.“
Ab Freitag den 5. Dezember 1930 waren die Aufführungen dann offen für die einfachen Besucher. Über die Ereignisse an diesem Abend berichtet der Oberschlesische Wanderer in Gleiwitz unter der reißerischen Überschrift Filmskandal in Berlin. Da ist von schweren Demonstrationen die Rede, die sich nach den ersten dramatischen Frontszenen ereignet haben sollen und in einem Proteststurm mündeten. Da sich Schlägereien entwickelten, mussten die Vorführer den Film unterbrechen. Nachdem die Polizei einschritt, aber immer noch keine Ruhe eintrat und sogar Stinkbomben geworfen wurden, räumten die Schupos das Kino.
Wer sich diese Meldung genauer ansieht erkennt sehr schnell in der linken oberen Ecke das Kürzel der gebenden Nachrichtenagentur tu. Damit sind wir auch schon wieder bei dem verlängerten Arm der rechten DNVP, Hugenbergs Telegraphen-Union. Was in der Meldung nicht erzählt wird, ist die Tatsache, dass es sich bei den Krawallbrüdern um SA-Trupps in Räuberzivil handelte, die durch den NSDAP-Gauleiter von Berlin-Brandenburg und gleichzeitigem Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels zu Störaktionen aufgerufen wurden.
Auch die Krawalle der nächsten Tage mit NSDAP-Aufmärschen und einem verhängten Demonstrationsverbot durch den Berliner Polizeipräsidenten sorgten nicht gerade für eine entspannte Atmosphäre bei den Kinobesuchern und erst recht nicht bei den Kinobetreibern. Der Reichsverband Deutscher Lichtspieltheaterbesitzer lehnte es am 9. Dezember 1930 ab, Filme zu zeigen, die ihre Theater zum Schauplatz politischer Kämpfe machten. Gleichzeitig kippte die Stimmung bei den Innenministern der Länder, die nach Preußen, Sachsen und Thüringen, Bayern und Württemberg ein Verbot des Films durch die Filmoberprüfstelle in Berlin einforderten. Der 11. Dezember 1930 entschied das Schicksal des Antikriegsfilms, da im Reichsministerium des Inneren über die Absetzung debattiert wurde. Wegen „ungehemmter pazifistischer Tendenzen“ und der „Herabsetzung der deutschen Reichswehr“ landete das filmische Meisterwerk, das in den USA bereits im November mit zwei Oscars für seine „Outstanding Production“ und den „Best Director“ an Lewis Milestone ausgezeichnet wurde, auf der Verbotsliste des Innenministeriums. Acht Tage nach seiner Berliner Erstaufführung verschwand der Streifen wieder von der Bildfläche und schaffte es daher nicht einmal bis nach Oberschlesien.
In den Großstädten Beuthen, Gleiwitz oder Hindenburg vergnügten sich die Oberschlesier stattdessen mit „Tonfilmpossen“ wie Die blonde Nachtigall, Namensheirat oder Ein Burschenlied von Heidelberg. Allesamt aus dem Hause UFA, die in ihren 116 Kinos mit knapp 100.000 Sitzplätzen auch einen Micky-Maus-Streifen im Programm hatte. Die unabhängigen, wie die UP-Lichtspiele oder das Capitol in Gleiwitz, unterhielten ihre Gäste mit Menschen im Käfig und der Willy-Forst-Operette Ein Tango für Dich – allesamt Tonfilme, versteht sich. Vom Berliner Rummel um Im Westen nichts Neues erfuhren sie nur aus den übernommenen tendenziösen Agenturmeldungen der Telegraphen-Union.
Während der Film in den nächsten Monaten des Jahres 1931 weltweit gefeiert wurde, kam auch in der heimischen Zensurangelegenheit wieder Bewegung auf. Am 8. Juni 1931 sah die Filmoberprüfstelle aufgrund neuer Paragraphen im Lichtspielgesetz eine neue Chance, den Universal-Film neu zu bewerten: Mit der Maßgabe, Im Westen nichts Neues nur in geschlossenen Veranstaltungen von Vereinigungen von Kriegsteilnehmern und solchen Verbänden zu zeigen, die der Friedensbewegung angehören oder die internationale Verständigung anstreben.
Damit war der Weg auch für oberschlesische Kinos endlich frei, die nochmals auf 85 Minuten zensierte Fassung aufzuführen. Interessanterweise kamen polnische Kinos jenseits der Reviergrenze den deutschen Behörden drei Monate zuvor. Seit dem 17. März 1931 zeigte z. B. das Colloseum in Königshütte oder das Rialto in Kattowitz den Streifen fünfmal täglich in geschlossenen Vorstellungen. Ein strategischer Schachzug, da die deutsche Synchronfassung im preußischen Teil Oberschlesiens beworben wurde, um Zuschauer über die Grenze zu locken.
Ab dem 24. Juli übernahm das Gleiwitzer Capitol-Theater am Stadtgarten den stürmisch umkämpften Film in sein Programm. Um der Auflage der geschlossenen Veranstaltung gerecht zu werden, trat der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund als Organisator auf den Plan. In seiner Programmvorschau schließt der Oberschlesische Wanderer in seiner Wochenendausgabe vom 25./26. Juli mit den Worten: „Die Vorführungen nahmen in Gleiwitz einen ungestörten Verlauf – man hat inzwischen als Deutscher ja leider erheblich ernstere und wichtigere Sorgen dazubekommen, als den leidigen Streit um jenen Film, der einmal einen politischen Sturm entfesselt hat.“
Text: Marton Szigeti, Stiftung Haus Oberschlesien / Oberschlesisches Landesmuseum (SHOS/OSLM)
Der Text erschien in der Ausgabe 5/2023 von “Schlesien heute”