Das Schlesische Nachtlesen findet am 13. April auf beiden Seiten des Neißeviadukts in Görlitz-Zgorzelec statt
An ungewöhnliche Orten lesen bekannte Persönlichkeiten und Autoren Texte mit Bezug zu Bahn und Region.
„Höchste Eisenbahn für erlesenen Genuss!“ ist das Motto des Schlesischen Nachtlesens am 13. April. Zusätzlich zu den Kurzlesungen an ungewöhnlichen Orten im Bahnhof Görlitz und Umgebung werden im Veranstaltungssaal Gleis 1 eine szenische Lesung, ein Konzert und eine Autorenlesung angeboten. Auch im Bahnhof Zgorzelec wird gelesen.
Das Thema Bahn wurde für das Nachtlesen nicht zufällig gewählt. Damit nimmt die Organisatorin Agnieszka Bormann, Kulturreferentin für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz, bewusst Bezug auf die aktuelle Sonderausstellung im Schlesischen Museum „Niederschlesien im Aufbruch“, die sich Orten und Gewerbe an der Schlesischen Gebirgsbahn zwischen Görlitz und Waldenburg (Wałbrzych) widmet. Zu einem der Ausstellungsthemen, der Taschentuchproduktion in Lauban (Lubań), liest Joachim Otto, Nachfahre einer Laubaner Unternehmerfamilie, aus seinem Buch „Meine Wurzeln in deiner Heimat“ im Museum der Fotografie.
Mit der Textauswahl wird das Publikum auf eine viel weitere literarische Zugreise als nur nach Lauban eingeladen. Der weiteste Ort bei den Kurzlesungen ist die tschechische Stadt Ostrau (Ostrava), die aus Schlesisch Ostrau und Mährisch Ostrau besteht. Hier spielt der Kriminalroman „Kinder der Wut“ von Nela Rywiková (2016, Deutsch 2023), aus dem Polizeioberrätin Susanne Heise, Leiterin der Görlitzer Polizeireviers in der Gobbinstraße, vorlesen wird.
Nach Schlesisch Ostrau nimmt der Generalvikar des Bistums Görlitz, Markus Kurzweil, seine Zuhörer mit. Wer seiner Lesung aus Ota Filips „Himmelfahrt des Lojzek aus Schlesisch Ostrau“ (1972, Deutsch 1973) lauschen möchte, muss auch einige Schritte Richtung Himmel gehen – sie findet im neu eröffneten Lapidarium der Kathedrale St. Jakobus statt, das man nur über den Glockenturm erreicht.
Etwas näher liegt Kattowitz (Katowice), ein wichtiger Handlungsort im Roman „Huta Ferrum“ von Eva Rex (2019). Hier verbringt die Hauptfigur Agathe ihre ersten Lebensjahre im sozialistischen Polen der 1970er Jahre und hierhin kehrt sie zurück, nachdem sie in der Bundesrepublik Deutschland aufwuchs. Ausschnitte aus diesem Familien- und Emigrationsroman trägt im Gebäude der Feuerwehr Ortsmitte Alexandra Grochowski vor, die aus Oberschlesien stammende Übersetzerin und Geschäftsleiterin bei Meetingpoint Memory Messiaen e. V.
Zurück in die Zeit der intensiven Eisenbahnentwicklung in Schlesien versetzt die Lektüre eines Zeitungsberichtes vom Dezember 1891 über die feierliche Eröffnung der Strecke von Hirschberg (heute Jelenia Góra) nach Petersdorf (Piechowice). Andreas Kolley, Marketingleiter der Europastadt GörlitzZgorzelec GmbH, stellt in der Cafeteria von InnoLabs dar, wie man bahnbrechende technische Innovationen Ende des 19. Jahrhunderts feierte.
Einige Meter weiter bringt Gerhart Hauptmann mit „Bahnwärter Thiel“ (1888), einem der bedeutendsten Werke des deutschsprachigen Naturalismus, ganz andere Stimmungsbilder ins Programm. Hans-Peter Struppe vom Görlitzer Theater spielte vor genau 20 Jahren die Rolle des Bahnwärter Thiel in der gleichnamigen Oper von Enjott Schneider. Ob er beim Schlesischen Nachtlesen nur vorlesen wird? Diesmal ist seine Bühne die ehemalige „Materialausgabe“ im heute ungenutzten Teil des Bahnhofs Görlitz.
Ein Stück jüdische Görlitzer Geschichte wird im ehemaligen Hotel Stadt Dresden (heute Landratsamt) erlebbar. Lauren Leiderman, die Organisatorin der Jüdischen Gedenkwoche Görlitz-Zgorzelec, und ihre Mitstreiterin beim Schmetterlingsprojekt Görlitz, Sybille Warnatsch vom Lebenshof Obermarkt, lesen aus Texten zweier Jüdinnen mit Görlitzer Wurzeln. Die Holocaustüberlebende Eva Feldmann Hirschfeld schrieb in den 1970er Jahren einen Brief ans Ratsarchiv, in dem sie aus ihrem Leben in Görlitz vor 1945 erzählte. Ihre Enkelin Tamar lebt in England und kam 2023 zur Jüdischen Gedenkwoche. In einem persönlichen Text beschreibt sie die Geschichte eines Familienjuwels, das nach dem Krieg wieder zur Familie zurückkehrte.
Einen ebenso starken lokalen Bezug hat die Lesung mit dem Görlitzer Ordnungsamtsleiter Uwe Restetzki im Bunker zwischen der Sattigstraße und der Kathedrale St. Jakobus. Er liest aus „Nach der Morgenröte. Jacob-Böhme-Roman“ von Wolfgang Melzer (2016). Der Ort, im Kalten Krieg als „Schutzbauwerk 300“ eingerichtet, wird seit einigen Jahren vom Bunker Südstadt e. V. als Veranstaltungsort genutzt. Mit dieser Lesung nimmt das Schlesische Nachtlesen Bezug auf die kommende Sonderausstellung des Schlesischen Museums, die sich ab Ende August dem großen Görlitzer Mystiker widmet.
Böhme beeinflusste auch polnische Dichter. Dazu zählt unter anderem Tadeusz Różewicz (1921–2014), der in Wrocław lebte und dessen Todestag sich Ende April zum 10. Mal jährt. Różewicz war in den Nachkriegsjahren die führende lyrische Stimme seines Landes, seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten in Polen. Beim Schlesischen Nachtlesen erklingen seine Gedichte in der Freien Waldorfschule „Jacob Böhme“ im alten Güterbahnhof, vorgelesen von den Lehrkräften Renata Gdula, Simone Waschelitz und Alexander Schubert.
Die Kurzlesungen finden zwischen 17 Uhr und 21 Uhr zu jeder halben Stunde statt. Das Rahmenprogramm im Gleis 1 beginnt um 15 Uhr mit der szenischen Lesung Spurwechsel – 150 Jahre Literatur über Züge, Strecken und Bahnhöfe im östlichen Europ und endet um 21 Uhr mit einer Lesung des tschechischen Autors Jaroslav Rudiš aus seiner Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen. Dazwischen bietet die Band Semper Mirandus um 18 Uhr ihre „Sagenhafte(n) Stadtgeschichten“ beim literarischen Konzert Von Geistern und Görlitz.
In Zgorzelec ist ab 17 Uhr der aus Bolesławiec (Bunzlau) stammende Bestsellerautor Sławek Gortych im Dachgeschoss des Bahnhofs zu Gast, dem Domizil der örtlichen Pfadfinderorganisation. Bekannt geworden ist er durch seine im Riesengebirge spielenden Krimis, die auch die deutsche Vergangenheit der Region einbeziehen. Die Veranstaltung im Bahnhof Zgorzelec findet auf Polnisch statt.
Das Format
Das Schlesische Nachtlesen ist eine Veranstaltung des Kulturreferates für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz und findet alle zwei Jahre statt, abwechselnd mit den Literaturtagen an der Neiße. An ungewöhnlichen Orten lesen bekannte Persönlichkeiten Texte mit Schlesienbezug vor. Die Kurzlesungen beginnen im Halbstundentakt, die erste um 17 Uhr, die letzte um 20:30 Uhr. Danach sind alle Gäste, Vorlesenden und Gastgeber der Vorleseorte zur Abschlusslesung mit Jaroslav Rudiš und zum anschließenden Ausklang des Abends eingeladen.
Der Eintritt
Der Eintritt umfasst alle Angebote des Schlesischen Nachtlesens und kostet:
- 10 Euro im VVK bis 12. April an der Kasse des Schlesischen Museums
- 15 Euro am Tag der Veranstaltung an der Kasse des Schlesischen Museums (10–17 Uhr) und im Gleis 1 im Bahnhof (14:30 –22 Uhr).
Das Programm
Das Programm des Schlesischen Nachtlesens finden Sie unter https://www.schlesisches-museum.de/kulturreferat/schlesisches-nachtlesen-2024. Die Druckdatei mit dem Programm zum Herunterladen finden Sie hier. Interessantes zu den Orten, Vorlesenden und Texten lesen Sie auf der Facebook-Seite des Schlesischen Nachtlesens.
Text: Agnieszka Bormann, Kulturreferentin für Schlesien