Vor 100 Jahren wurde der kleine Ort im Teschener Schlesien endgültig an die Tschechoslowakei angeschlossen
Seine ausnahmslos polnischsprachigen Bewohner optierten dafür aus praktischen Gründen.
Der Fall Hertschawa (tschechisch Hrčava, polnisch Herczawa) ist gleich aus mehreren Gründen interessant. Einerseits, weil er das weitgehend bekannte Prinzip bestätigt, dass sich in mehreren Teilen Oberschlesiens die Muttersprache nicht automatisch auf die nationale Identität auswirkt. Andererseits auch, weil er ein Beispiel für die praktische Umsetzung des nach dem Ersten Weltkrieg so gepriesenen, aber nur selektiv angewandten Selbstbestimmungsrechts ist.
Die Einwohner dieses in den Beskiden gelegenen 230-Seelen Dorfes waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert ohne Ausnahme polnischsprachig, wobei mit „polnischsprachig“ die lokale Variante des Polnischen gemeint ist. Als im Juli 1920 im Rahmen der Konferenz von Spa der zwei Jahre dauernde, teilweise mit militärischen Mitteln ausgetragene polnisch-tschechoslowakische Konflikt um das Teschener Schlesien durch eine Teilung der Region zeitweise beigelegt wurde, fand sich Hertschawa innerhalb der Grenzen Polens wieder. Auf diese Entscheidung reagierte die dortige Bevölkerung mit einer an die Internationale Grenzkommission gerichteten Petition, in der sie ihren Wunsch zum Ausdruck brachte, Teil der Tschechoslowakei zu werden.
Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass das Dokument von allen erwachsenen Einwohnern unterschrieben wurde und dass politische bzw. nationale Gründe dabei keine Rolle spielten. Vielmehr ging es um die Sicherung eines relativ unkomplizierten Zugangs zu Ämtern, Schulen, Gesundheitswesen und Eisenbahn. Vor diesem Hintergrund schien die Zugehörigkeit zur Tschechoslowakei tatsächlich praktischer, da die 20 km entfernte Kreisstadt Jablunkau (tschechisch Jablunkov, polnisch Jabłonków) bereits an den von Prag aus regierten Staat angeschlossen wurde. Wäre Hertschawa bei Polen verblieben, so wäre Skotschau (Skoczów) die nächste Stadt gewesen. Und diese ist nicht nur 40 km entfernt, sondern liegt auch jenseits des Kubalonka-Passes, der in der damaligen Zeit im Winter wegen großer Schneemassen oft nicht passierbar war.
Ein Jahr nach Einreichung der Petition wurde vorläufig über den Anschluss von Hertschawa an die Tschechoslowakei entschieden. Am 20. Juni 1924 erfolgte die endgültige Angliederung. Die schlesische Variante des Polnischen bleibt bis heute die Umgangssprache in dem Ort. Dennoch geben bei den letzten Volkszählungen konsequent ca. 90 Prozent der Einwohner tschechisch als Volkszugehörigkeit an. Zur polnischer Nationalität bekennen sich weniger als zehn Prozent der Hertschawaer. Aus diesem Grund stehen auch am Eingang in diesen östlichsten Ort der Tschechischen Republik keine zweisprachigen Schilder, wie man sie aus mehr als 30 Städten und Dörfern des tschechischen Teiles von Teschener Schlesien kennt.
Text: Dawid Smolorz