Arbeitersiedlung Nikischschacht (Nikiszowiec): Schönheit in Röte

Vor etwa hundert Jahren entstand in Kattowitz (Katowice) eine beeindruckende Siedlung für Bergbauarbeiterfamilien

Heute gilt das Areal als touristische Sehenswürdigkeit und Teil des industriellen Erbes Oberschlesiens.

Unabhängig davon, wie viele Arbeiterviertel man in seinem Leben gesehen hat, wird ein Besuch in dem Kattowitzer Stadtteil Nikischschacht lange in Erinnerung haften bleiben. Denn diese aus neun Karees bestehende Siedlung sucht nicht nur in Oberschlesien ihresgleichen. Das Viertel wurde als eine Art geschlossene Einheit konzipiert. Ihr städtischer Charakter wird zum einen durch den zentralen Platz mit der imposanten St. Annakirche, zum anderen durch die torartigen Gebäude hervorgehoben, über die man ins Innere der Siedlung gelangt.

Luftaufnahme von Nikischschacht. Deutlich zu sehen die neun Karees, aus denen die Siedlung besteht. Quelle: Robert Danieluk, Wikimedia Commons.

Die Berliner Architekten Emil und Georg Zillmann, in deren Büro in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die Pläne dieses Viertels entstanden, wollten ein separates Arbeiterstädtchen bauen. Und das gelang ihnen auch. Außer den Wohngebäuden und der Kirche hatte Nikischschacht eine Schule, eine Polizeiwache, ein Postamt, eine Gaststätte, ein Wasch- und Badehaus sowie mehrere Läden. Damit wurde für die wichtigsten Bedürfnisse des Leibes und der Seele gesorgt. Nicht zufällig war auch die Lage. Die Gieschegrube (später Bergwerk „Wieczorek“), in der die meisten männlichen Einwohner der Siedlung arbeiteten, war nur einen Steinwurf entfernt. Von einer der Schachtanlagen dieser Zeche übernahm der Ort übrigens seinen Namen.

Die imposante St. Annakirche im Kattowitzer Stadtteil Nikischschacht (Nikiszowiec), Fot. A. Bormann.

Mit dem Bau des Viertels, der im Auftrag des Konzerns Georg von Giesches Erben erfolgte, wurde 1908 begonnen. Wegen des Ausbruches des Ersten Weltkrieges zogen sich die Arbeiten aber bis in die 1920er Jahre. Als letztes wichtiges Objekt der Siedlung entstand zwischen 1922 und 1927, also schon nach dem Anschluss Ostoberschlesiens an Polen, die St. Annakirche. In den 1930er Jahren lebten in den geräumigen Wohnungen Nikischschachts ca. 5.000 Menschen.

Das Dekorationsmotiv an der Fassade des Postamtes knüpft an die oberschlesische Volkstracht an. Quelle: Fotkarka, Wikimedia Commons.

Der architektonische Wert des Viertels wurde relativ spät erkannt. Erst seit den 1990er Jahren wird es als touristische Sehenswürdigkeit und Teil des industriellen Erbes Oberschlesiens betrachtet. Die Liebhaber der Kunst assoziieren die Siedlung mit der Janower Gruppe, einer Laienkünstlergruppe, deren Mitglieder in ihren Werken die malerischen Ecken Nikischschachts verewigten (mehr zu diesem Thema hier.

Im Jahr 2011 wurde das Viertel auf die beim polnischen Kulturministerium geführte prestigeträchtige Liste der Geschichtsdenkmäler eingetragen. Auch wenn die Siedlung noch nicht top saniert ist, gilt es heute als trendy, in Nikischschacht zu wohnen. Zu dieser Einstellung trugen nicht zuletzt die vielen Filme, Werbespotts und Videoclips bei, die in den vergangenen Jahrzehnten dort gedreht wurden. Dass die Fassaden manchmal noch rußgeschwärzt sind, schreckt nicht ab. Nikischschacht hat zweifelsohne ein einmaliges Ambiente und – was oft hervorgehoben wird – ist kein Freilichtmuseum. Besucher erleben das am deutlichsten, wenn sie sonntagsvormittags durch die Straßen des Viertels spazieren gehen und in ihre Nasen der Duft der kochenden schlesischen Nudelsuppe steigt.

Hauptplatz der Siedlung. Quelle: Abraham, Wikimedia Commons.

Text: Dawid Smolorz