Die folgenreiche Umarmung wird in einer Ausstellung im HAUS SCHLESIEN thematisiert
Die Versöhnungsmesse am 12. November 1989 und ihre Auswirkungen.
Wenn man heute das weitläufige Gelände des in Niederschlesien gelegenen Gutes Kreisau (Krzyżowa) mit der internationalen Begegnungsstätte und dem Sitz der Stiftung Kreisau für europäische Verständigung, betritt, begegnen einem – insbesondere in den Sommermonaten – fast immer junge Leute. Oft sprechen sie Deutsch oder Polnisch, nicht selten aber auch irgendeine andere europäische Sprache. Sie treffen hier mit anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen und diskutieren über Europa oder andere wichtige Themen wie Nachhaltigkeit oder Demokratie. Sie spielen aber auch einfach nur Fußball, sonnen sich auf der Rasenfläche zwischen den einstigen Stallungen oder „ackern“ im neu angelegten ökologischen Nutzgarten.

Rückblick
Vor rund 35 Jahren bot sich ein völlig anderes Bild: die Wirtschaftsgebäude des einst ansehnlichen Familiengutes der Moltkes, das während des Zweiten Weltkrieges der nach ihm benannten Widerstandsgruppe, dem Kreisauer Kreis, als geheimer Treffpunkt diente, wurden landwirtschaftlich genutzt, aber das frühere Gutshaus verfiel zusehends. An seine einstige Bedeutung erinnerte nichts mehr. Zwar bemühte sich seit den 1970er Jahren der Breslauer Wissenschaftler Karol Jonca ebenso wie der langjährige Kreisauer Pfarrer Bolesław Kałuża darum, die Erinnerung an die Widerstandsgruppe wach zu halten, doch alle Versuche wenigstens mit einer Gedenktafel an den Kreisauer Kreis erinnern zu können, blieben bis 1989 erfolglos. Auch die später entwickelte Idee des Klubs der Katholischen Intelligenz in Breslau (Wrocław), hier eine Begegnungsstätte zu errichten, wäre wohl schwer realisierbar gewesen, wenn nicht die große Weltpolitik und ein kleines Quäntchen Glück im November 1989 Kreisau ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt hätten.
Nachdem die Opposition im Juni 1989 bei den ersten halbfreien Wahlen in Polen eine überwältigende Mehrheit errungen hatte und mit Tadeusz Mazowiecki der erste nichtkommunistische Ministerpräsident seit Kriegsende gewählt worden war, stand die politische Annäherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen ganz oben auf der Agenda beider Regierungen. Um dieses Anliegen zu forcieren, plante der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl im November 1989 einen mehrtägigen Staatsbesuch in Polen, in dessen Rahmen eine „gemeinsame Erklärung“ unterzeichnet werden sollte.
Heilige Messe im Programm des Staatsbesuchs
Teil des Besuchsprogramms sollte die gemeinsame Teilnahme des deutschen Bundeskanzlers und des polnischen Ministerpräsidenten an der Heiligen Messe sein. Von der Idee, die seit 1988 wieder regelmäßig in Deutsch und Polnisch abgehaltenen Messen auf dem oberschlesischen Annaberg zu besuchen, wurde schnell Abstand genommen. Der Annaberg war aufgrund seiner politisch brisanten Bedeutung als Ort des Abstimmungskampfes 1921 für eine Versöhnungsgeste ungeeignet. Die polnische Regierung schlug stattdessen Kreisau vor, was sowohl in Deutschland als auch in Polen von den meisten Politikern positiv aufgenommen wurde. Daraufhin musste in aller Eile der Ort für dieses Großereignis vorbereitet werden: das ruinöse Gutshaus musste notdürftig gesichert, ein Altar aufgebaut und das Gelände für die zu erwartende große Besuchermenge hergerichtet werden.

Nachdem der deutsche Bundeskanzler, überrollt von den historischen Ereignissen im eigenen Land, seinen Besuch für kurze Zeit unterbrochen hatte, um nach dem Fall der Mauer persönlich in Berlin zu sein, kehrte er rechtzeitig zur geplanten Messe nach Polen zurück. Zu dem schließlich am 12. November 1989 unter freiem Himmel abgehaltenen Gottesdienst, der später als Versöhnungsmesse in die Geschichtsbücher einging, kamen mehrere tausend Menschen. Darunter waren auch viele Angehörige der deutschen Minderheit in Schlesien, die Helmut Kohl mit Transparenten und Jubelrufen als „ihren Kanzler“ begrüßten. Die Messe zelebrierte der Oppelner Erzbischof Alfons Nossol in deutscher und polnischer Sprache. In seiner Predigt sprach er von der Gabe der Vergebung und der Bedeutung der Versöhnung. Als er die Gläubigen aufrief „Gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung“, umarmten sich die beiden Staatsmänner freundschaftlich. Diese Umarmung wurde zum Symbol einer Wende für die deutsch-polnischen Beziehungen und kann zugleich als Geburtsstunde der internationalen Begegnungsstätte in Kreisau angesehen werden.
Denn nur wenige Tage nach dem historischen Zusammentreffen der beiden Regierungschefs folgte eine Absichtserklärung beider, eine internationale Jugendbegegnungsstätte auf dem früheren Familiengut der Moltkes einzurichten. Der Wiederaufbau dauerte fast acht Jahre, es fanden jedoch von Beginn an internationale Workcamps auf dem Gelände statt. Die Jugendlichen übernachteten damals noch in Zeltlagern und unterstützten die Aufbauarbeiten. Der 1990 gegründete Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung dient das großzügige Anwesen heute als Begegnungs- und Gedenkstätte. Die Stiftung fühlt sich der europäischen Verständigung verpflichtet und fördert den Dialog zwischen Menschen verschiedener Herkunft und Weltanschauung. Jährlich kommen mehrere Tausend Jugendliche aus ganz Europa nach Kreisau, um an einem der zahlreichen Programme teilzunehmen. Es werden Workshops und Seminare angeboten, bei denen die Begegnung und das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund stehen. Im Berghaus, das der Familie Moltke zuletzt als Wohnhaus diente und in dem die Widerstandsgruppe insgesamt dreimal zusammenkam, ist eine Gedenkstätte eingerichtet worden.

Erinnerungsort für Deutsche und Polen
Im deutschen sowie im polnischen kollektiven Gedächtnis ist der Ort Kreisau heute in zweifacher Hinsicht ein bedeutender Erinnerungsort: Zum einen gedenkt man hier des Terrors und der menschenverachtenden Grausamkeit des Nationalsozialismus, aber auch des Muts einzelner, sich dem zu widersetzen. Zum anderen erinnert man sich an den Fall des Eisernen Vorhangs, der nach dem Zweiten Weltkrieg fast 45 Jahre Europa in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke teilte. Die aus dem Widerstand des Volkes erwachsenen Entwicklungen, die zum Ende des Kommunismus in Polen und letztlich im gesamten Ostblock geführt hatten und damit den Beginn der deutsch-polnischen Aussöhnung und des Zusammenwachsens Europas einleiteten, manifestierten sich im November 1989 an einem Ort, in einer Begegnung, in einer Geste, die sich in das kollektive Gedächtnis beider Nationen eingeprägt hat: die Umarmung der beiden Staatsmänner in Kreisau.

Anlässlich des 35. Jubiläums der Versöhnungsmesse zeigt das Haus Schlesien in Königswinter ab dem 10. November 2024 unter dem Titel „Aufbruch – Umbruch – Durchbruch. Schlesiens Rückkehr in die Mitte Europas“ eine in Zusammenarbeit mit mehreren Partnerinstitutionen entstandene Sonderausstellung, die die Entwicklungen thematisiert, die dieses historische Ereignis erst ermöglicht haben und den Weg Polens zurück in die Europäische Union und damit in die Mitte Europas aufzeigen.
Text: Silke Findeisen, Pressemitteilung des Haus Schlesiens vom 8.10.2024

Termin
Donnerstag, 21.11.2024, 14:30 Uhr
Öffentliche Führung „Schlesische Dreiviertelstunde“
„Die Versöhnungsmesse in Kreisau“
Die freundschaftliche Umarmung zwischen dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki und dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl im November 1989 wurde zum Symbol der Wende in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Führung betrachtet Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen der Versöhnungsmesse in Kreisau. Entgelt 3,- Euro, Anmeldung unter kultur@hausschlesien.de oder 02244 886 231.
AUSSTELLUNGEN im HAUS SCHLESIEN
Dauerausstellung „Schlesische Erinnerungsorte“
Acht Themen-Häuser laden zum Ausstellungsrundgang ein. Rund 300 Exponate erwarten die Gäste. Interaktive Medien- und Mitmachstationen sprechen verschiedene Sinne an und ermöglichen eine spielerische Wissenserweiterung.
Metallmorphosen – Kunstausstellung mit Werken des Prozessdesigners Oskar Zięta
28. Juli bis 3. November
Realität und Reflexion – Werke des Malers Erhard Hain (1925-2010)
im Eichendorffsaal, 6. Oktober bis 31. August 2025
Aufbruch – Umbruch – Durchbruch: Schlesiens Rückkehr in die Mitte Europas
10. November 2024 bis April 2025
Öffnungszeiten Museum
Mi bis Fr 10 – 18 Uhr
Sa, So, Feiertage 11 – 18 Uhr
und nach Vereinbarung
Letzter Einlass 17 Uhr
Eintritt frei
Kontakt und INFORMATION
HAUS SCHLESIEN – Dokumentations- und Informationszentrum
Dollendorfer Straße 412, 53639 Königswinter
Telefon 02244 – 886 0 | kultur@hausschlesien.de | www.hausschlesien.de
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