Der Berggeist im Breslauer Hauptbahnhof

„Der Tempel der Märchen“ in der Galerie BWA Wrocław Główny bezieht sich auf die alte Sagenhalle von 1903 in Schreiberhau

Mit Werken namhafter Künstler lädt die Galerie bis Januar 2025 in die zeitgenössische Sagenhalle ein.

Die Ausstellung „Der Tempel der Märchen“ (Świątynia Baśni) in der Galerie BWA Wrocław Główny im Breslauer Bahnhof nimmt Bezug auf die 1903 erbaute, heute nicht mehr existierende Sagenhalle in Schreiberhau (Szklarska Poręba). Die zentrale Figur der Präsentation ist der Berggeist, auch Rübezahl genannt. Seine älteste bekannte Darstellung, wie sie auf der Karte Schlesiens aus dem Jahre 1561 von Martin Helwig zu sehen ist, findet sich nicht nur im Signet der Ausstellung, sondern auch in ihrem räumlichen Arrangement wieder. So wie Rübezahl Jahrhunderte lang die Vorstellungskraft der Generationen anspornte, betonen die Kunstwerke die besondere Rolle der Vorstellungskraft angesichts der Krisen in der modernen Welt, in der wir neu geschriebene Märchen und Sagen brauchen.

Hermann Hendrich steht vor seinen Bildern in der Schreiberhauer Sagenhalle, Quelle: polska-org.pl
Die Sagenhalle in Schreiberhau

Die Sagenhalle wurde 1903 als ein kleiner und reich mit phantasievollem Schnitzwerk verzierter hölzerner Bau auf Initiative von Hermann Hendrich (1854-1931), einem deutschen Maler und Mitbegründer der Berliner Sezession, in Mittel-Schreiberhau errichtet. Verliebt in das Riesengebirge, organisierte Hendrich hier einen kleinen museumsähnlichen Ort, der der Geschichte des Berggeistes gewidmet war. Für den Künstler, der im Geiste des Symbolismus arbeitete, war Rübezahl die Personifizierung der Naturkräfte, des Sujets seiner Werke. In der Sagenhalle präsentierte er großformatige, ausdrucksstarke Landschaften mit Bergpanoramen, die die Unberechenbarkeit und Kraft der Naturphänomene zeigen. Den Ausstellungsführer zur „Sagenhalle“, der bereits 1904 nach Verkauf von 10.000 Exemplaren neu gedruckt werden musste, verfasste der ebenfalls der Schreiberhauer Künstlerkolonie angehörende Schriftsteller und Philosoph Bruno Wille. Ein Exemplar ist auch in der Ausstellung zu sehen.

Was ist im „Tempel der Märchen“ zu sehen?

Das Konzept der Ausstellung im Breslauer Hauptbahnhof besteht darin, zeitgenössische Tempel zu schaffen, die jeweils eine andere Geschichte erzählen. In den Ausstellungsräumen, die an Kapellen erinnern, werden sowohl eigens für diese Ausstellung angefertigte Werke als auch ältere Arbeiten gezeigt – zum Beispiel ein fast 120 Jahre alter Wandteppich von Wanda Bibrowicz oder Zeichnungen von Tempeln des umstrittenen Künstlers Stanisław Szukalski aus der Vorkriegszeit. Die in der Ausstellung vorgestellten Werke zeitgenössischer Künstler beziehen sich auf verschiedene Zeitdimensionen: Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.

Die Installationen von Stach Szumski beziehen sich auf das dämonische Bild des Berggeistes als Teufel und erinnern an seine heidnischen Wurzeln, die jedoch eng mit der Natur verbunden sind. Werke von Justyna Baśnik sind den pflanzlichen Lebewesen gewidmet, deren Welt sich aufgrund der Klimaerwärmung rasch verändert. Bei Paweł Baśnik schwingen uralte Konzepte mit: die Hochachtung für das Leben der Tiere und das Verbot, sie zu töten. Das Duo Inside Job (Ula Lucińska und Michał Knychaus) entwickelt eine von der dunklen Ökologie inspirierte Vision der Verflechtung von Natur und Technik zwischen den Spezies.

Ausstellung “Tempel der Märchen”, Fot. A. Bormann

In ihrem verträumten Film tritt Jagoda Dobecka in einen zärtlichen Dialog mit dem (reellen) Gebirgsbach Wölfel (Wilczka), während Paweł Kulczyńskis Klanginstallation beunruhigende und zugleich beruhigende Klänge hervorruft, die sowohl zu Naturphänomenen als auch zu den Motoren unheimlicher Maschinen passen. Marta Niedbał konzentriert sich auf die Verflechtung von Körpern und Landschaften, die Einheit von belebter und unbelebter Natur und die planetarische Ordnung.

Die präsentierten Werke thematisieren das Verhältnis von Mensch zu Natur und bewegen sich in den Bereichen Ökologie, Posthumanismus, Volksglauben. Sie wurden in einer Vielzahl von Techniken geschaffen – Malerei, Textilkunst, Installation und Video – und betonen die Rolle der Vorstellungskraft angesichts der Krisen der modernen Welt, in der wir neue Szenarien und neu geschriebene Märchen brauchen.

Im historischen Kostüm wird über die Zukunft erzählt

Joanna Kobyłt, die Kuratorin der Ausstellung wie auch des gesamten Galerieprogramms, stellt gekonnt den historischen Kontext der Gegenwart gegenüber: „Als Kunsthistorikerin frage ich mich: Brauchen wir auch heute noch Märchen? Angesichts von Krisen kann es überlebenswichtig sein, alternative Zukunftsszenarien zu erzählen und in der Vergangenheit nach positiven Vorbildern zu suchen. Heute suchen wir Hoffnung in der Technologie und der Evolutionstheorie und glauben, dass die Wissenschaft ein Mittel gegen die ökologische Katastrophe finden wird, oder wir trösten uns mit dem Gedanken, dass wir nach unserem Verschwinden durch ein anderes, derzeit unbekanntes Leben ersetzt werden.

In meiner Praxis als Ausstellungskuratorin greife ich häufig auf alte kulturelle Quellen und historische Kontexte zurück, die mit der Moderne (19. und 20. Jahrhundert) zusammenhängen. Ich schöpfe gern aus Abenteuerromanen und alten Führern zu Naturkundemuseen, Zoos, Planetarien und anderen modernen Attraktionen zurück, die damals erklärten, wie die Welt funktioniert. Bei der Vorbereitung der Ausstellung fand ich einen Führer zur Sagenhalle von 1904 mit einem Text von Bruno Wille, der die Halle als „künstlerisches Denkmal für die Liebe zur Natur“ beschreibt. Dieser Satz wurde für mich zum Impuls, darüber nachzudenken, wie wir heute unser Verhältnis zur Natur definieren würden.

Die Ausstellung wirft auch Fragen nach der Krise der Vorstellungskraft auf, mit der wir derzeit konfrontiert sind. Durch die Schaffung neuer „Tempel“ – sowohl im physischen als auch im symbolischen Sinne – versuchen wir, den Weg zu einem neuen Denken über die Zukunft zu ebnen, indem wir uns daran erinnern, was bereits gewesen ist. Wir erzählen ein Märchen, denn heute, wie damals, brauchen wir das, was ein Märchen in sich trägt: eine Flucht in eine andere Welt, um Hoffnung zu schöpfen“.

Auf dem Weg in die Galerie BWA im Breslauer Hauptbahnhof. Fot. A. Bormann
Eckdaten der Ausstellung
  • Der Tempel der Märchen (Świątynia Baśni)
  • 11.10.2024 bis 26.01.2025
  • Galeria BWA Wrocław Główny (im oberen Teil des Breslauer Hauptbahnhofs)
  • Künstlerinnen und Künstler: Justyna Baśnik i Paweł Baśnik, Wanda Bibrowicz, Urszula Broll, Jagoda Dobecka, Inside Job (Ula Lucińska, Michał Knychaus), Paweł Kulczyński, Stanisław Szukalski, Stach Szumski, Marta Niedbał, Aleksandra Waliszewska, Henryk Waniek, Magdalena Wrońska-Wiater 
  • Kuratorin: Joanna Kobyłt
  • Öffnungszeiten: Mo-Di geschlossen, Mi-Do 12-20, Fr 12-18, Sa-So 11-18
  • Eintritt frei
  • Sprachen: PL, EN, UA

Text und Fotos der Ausstellung: Agnieszka Bormann
Quelle: Galerie BWA Wrocław Główny