Es ist eine besondere Fügung des Schicksals: Aus seinem Geburtshaus in Oberschlesien ist Reinhard Egemann nach Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben worden
Heute hat er dort aber sein Lebensglück gefunden.
Wenn Reinhard Egemann heute in dem kleinen Wäldchen hinter dem Haus spazieren geht, kommen die Erinnerungen zurück, die guten wie die schlechten. Die guten, das sind die an die grenzenlose Freiheit und Sorglosigkeit, wie man sie nur als Kind erlebt. „Bis zu meinem siebten Lebensjahr habe ich meine Kindheit hier verbracht, ich kannte jeden Baum, jeden Stein“, sagt er. Er zeigt zwischen zwei knorrige Bäume hindurch auf einen Hügel. „Der kam mir früher vor wie ein riesiger Berg.“ Daneben plätschert die „Bogacica“. So heißt das Bächlein, genau wie das Dorf, das etwas abseits des Waldes liegt. „Als ich Kind war, hatte der Bach keinen Namen. Wir haben immer darin gefischt und unsere Netze waren voll.“ Fische und Krebse gibt es heute nicht mehr darin.
Früher, vor 1945, hieß der Ort Karlsgrund. Das Haus am Waldesrand hat Reinhard Egemanns Vater 1932 gebaut. 1938 kommt Reinhard hier zur Welt. Die fünfköpfige Familie teilt sich das Haus mit einer zweiten Familie. Für die Kinder wird es nie langweilig, meistens spielt sich das Leben draußen ab. Als aber später mit Kriegsende das vormals deutsche Gebiet an Polen fällt, ist es mit der unbeschwerten Zeit vorbei. Hier setzen jene Erinnerungen ein, die Reinhard Egemann lieber vergessen möchte.
Deutsche Soldaten suchen Zuflucht
Als die Rote Armee nach Karlsgrund einmarschiert und ein neues, kommunistisches Regime entsteht, suchen deutsche Soldaten Schutz in dem Waldstück am Rande des Egemann-Hauses. „Wir haben uns als Kinder gewundert: Meine Mutter hat abends eine große Waschschüssel voll Kartoffelsalat gemacht, am anderen Morgen war die Schüssel leer. Den haben die Soldaten bekommen!“ Einer von ihnen, der vorgibt ein Freund des abwesenden Vaters zu sein, fleht um Einlass. „Wasserblasen hatten sich an seinen Füßen gebildet, regelrechte Wassersäcke, er konnte nicht mehr in seine Stiefel. Er weinte wie ein kleines Kind. Draußen eine fürchterliche Kälte, hoher Schnee“, berichtet Reinhard Egemann. Obwohl das auf Todesstrafe verboten ist, versteckt und versorgt Mutter Egemann den Umherirrenden.
„Meine Mutter war mutig“
Auf dem Dachboden in einem Bett aus Heu kommt der Soldat langsam zu Kräften. Doch das Geheimnis fliegt bald auf und Reinhard Egemann erlebt mit, wie kommunistische Soldaten das Haus stürmen. „Meine Mutter, eine kleine, zierliche Frau, haben sie grün und blau geschlagen. Sie lag auf dem Boden. Ein Mann hat sie an den Haaren gegriffen und sie bis zu einer Leiche gezerrt. Das war der Mann, den sie versteckt hatte.“ Die junge Mutter kommt ins Gefängnis und muss weitere Übergriffe über sich ergehen lassen. Doch sie hat Glück, durch Beziehungen kommt sie wieder frei, muss aber mit den Kindern das Land, das jetzt Polen ist, verlassen. 1946 flüchtet die Familie nach Deutschland und baut sich dort eine neue Zukunft auf.
In seinen Erzählungen gibt Reinhard Egemann seiner Mutter einen besonderen Platz, seine bedingungslose Liebe für sie und die große Bewunderung für ihr mutiges Handeln merkt man ihm an. „Das hätte wahrscheinlich nicht jeder gemacht. Aber meine Mutter hatte Courage“, sagt er mit nassen Augen.
„Ich habe keinen Hass“
Doch eines möchte er unbedingt noch klarstellen: „Ich gebe nicht dem polnischen Volk die Schuld. Nach dem Krieg war eine gesetzlose Zeit, so waren die Umstände. Mittlerweile habe ich die besten Beziehungen zu den Polen und Freunde gewonnen. Ich habe keinen Hass.
Heute lebt Reinhard Egemann wieder in seinem Geburtshaus in Oberschlesien und geht hier seinem liebsten Hobby nach: der Jagd. In einer zurechtgemachten Hütte bewahrt er all seine Trophäen auf: unzählige Geweihe, die die Wände bedecken. „Ich hatte immer große Sehnsucht. In Gedanken zog es mich immer wieder nach Oberschlesien zurück“, sagt der 84-Jährige und ist froh, gemeinsam mit Ehefrau Irmgard, die er 2008 geheiratet hat, wieder zu Hause zu sein. Beide kennen sich noch aus Kindertagen. Es waren Irmgards Eltern, mit denen Reinhards Familie bis 1946 in Karlsgrund zusammengelebt hat – auf Umwegen hat sie das Schicksal wieder zusammengeführt. In ihrer beider Geburtshaus haben sie nun ihr Lebensglück gefunden.
Text & Bilder: Marie Baumgarten