Erste Jahrestagung der Gemeinschaft ev. Schlesier e. V. und des Heimatwerks Schlesischer Katholiken e. V.
Ein Bericht von Stefan P. Teppert.
Die erste Jahrestagung der Gemeinschaft evangelischer Schlesier (Hilfskomitee) e. V. und des Heimatwerks Schlesischer Katholiken e. V. hat am 25.-26. Februar 2023 im Erbacher Hof in Mainz stattgefunden.
Dr. Bernhard Jungnitz, Vorstandsvorsitzender des Heimatwerks, begrüßte Referenten und Teilnehmer und zeigte sich zufrieden mit dem vollen, konfessionell gemischten Saal. Generalsuperintendent i. R. Martin Herche aus Görlitz hielt nach einem Rückblick auf die Entstehung der Organisationen auf evangelischer und katholischer Seite fest, dass es seit langem eine Zusammenarbeit zwischen beiden gebe und die Premiere einer gemeinsamen Tagung die Fortsetzung eines gemeinsamen Weges sei.
Prof. Dr. Rainer Bendel, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO) in Stuttgart, hatte die Tagung zusammen mit dem Heimatwerk organisiert, führte ins Thema ein und moderierte. Der gemeinsame Weg der Konfessionen solle nicht nur mit einem allerseits geschätzten Thema, sondern auch methodisch durch die Mitarbeit der Teilnehmer neu starten. Diese erhielten deshalb Texte von drei verschiedenen Autoren ausgeteilt – eine an Dominikanermönche und -nonnen gerichtete Predigt über die Armut im Geiste von Meister Eckhart, ein Lied über die „Heilige Seelenlust“ sowie „Geistreiche Sinn- und Schlussreime“ von Angelus Silesius (Johannes Scheffler) sowie ein meditatives Selbstgespräch von Martin Moller über die Passion Christi – und sollten sich nach stiller Lektüre dazu äußern, was einen mystischen Text charakterisiert.
Bendel lobte die qualifizierten Beiträge, die kamen, und erläuterte mit dem geschulten Blick des Theologiehistorikers die Radikalität Eckharts. Bei seiner stark theozentrischen Mystik werde ein Zustand vor der Schöpfung unter Aufhebung der Raum-Zeit-Verfasstheit angestrebt. Alles Kategoriale und Geschöpfliche müsse dabei transzendiert werden. Mit Gott eins werden sei das Ziel der Armut, eine Letztvollkommenheit, die nur augenblicklich und individuell erreicht werden könne. Es gehe um höchst dramatische und gefährliche Paradoxien, wenn der Mystiker sich selbst und zugleich Gott aufzugeben trachte. Die verfasste Kirche hielt die Grenze zur Blasphemie für überschritten, Eckhart kam ins Visier der Inquisition und sollte sich vor dem Papst in Avignon verantworten. Die Bedeutung des Einzelnen wurzle, so Bendel resümierend, entgegen dem Bild vom finsteren Mittelalter in der Mystik.
Pfarrer Dr. Matthias Paul aus Görlitz übernahm die Moderation der Beiträge aus dem Publikum nach der Lektüre der Texte von Silesius und Moller. In der mittelalterlichen Mystik, führte er aus, gab es zwei wesentliche Richtungen, die eine auf Gott konzentriert, die andere auf den Heiland. Ihre Traditionen gehen bis aufs Neue Testament zurück mit seinen koexistierenden johanneischen und paulinischen Bildern. Zu den bedeutendsten schlesischen Mystikern, die ein neues, von der Tradition der gesamten vom Neuplatonismus ausgehenden Mystik deutlich abweichendes Denkmodell entwarfen, zählen vor allem Jacob Böhme, Angelus Silesius und Daniel Czepko. Bei Silesius gehe es nicht nur um die Menschwerdung Gottes, sondern auch um die Gottwerdung des Menschen. Mit seiner Kennzeichnung der Gottheit als ein Nichts, ein Über-Nichts und ein Un-Grund sei er von Eckhart und Böhme inspiriert und reiche aus Kirchensicht an die Grenze des Tolerierbaren. Silesius habe trotz seines europaweit Furore machenden Konvertierens zum Katholizismus wohl keine von beiden Kirchen als die allein richtige angesehen. Martin Moller, der um 1600 Pfarrer in Görlitz war, habe mit seinen Texten zeigen wollen, wie man sich durch Gebet und Meditation die Schrift aneignen, das eigene Glaubensleben vertiefen und sich am Beispiel Jesu stärken und trösten kann. Eine wichtige Rolle als Verbindungsglied der schlesischen Mystiker untereinander spielte Abraham von Franckenberg. Er war ein großer Vermittler des Lebens und Werkes von Jakob Böhme, dem Görlitzer Schuster, und pflegte eine Frömmigkeit, die ganz von diesem geprägt war. Mystische Texte, erläuterte Paul, seien in großem Umfang zugleich Gebetstexte. Ein wichtiger Aspekt an der Mystik sei ihr Widerstand gegen Borniertheit und machtbesessene Ideologien. Von Bedeutung sei sie auch heute noch. Der für seine „Begründungsfreie Rationalität“ bekannte Theologe Karl Rahner sagte sogar: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein … oder er wird nicht mehr sein.“
Nach Lektüre, Diskussionsbeiträgen und Kommentaren hielt den ersten Vortrag im eigentlichen Sinne Prof. Dr. Martin Rothkegel, der an der evangelischen Hochschule Elstal Kirchengeschichte unterrichtet. Er beschäftigte sich mit den schlesischen Theologen, Humanisten und Reformatoren Kaspar Schwenckfeld (1490–1561) und dessen theologischem Ideengeber Valentin Krautwald (1465–1545) sowie der von Herzog Friedrich gegründeten und von 1526 bis 1530 bestehenden ersten evangelischen Universität und einzigen Hochschule Schlesiens in Liegnitz. Schwenckfelds Botschaft beruhe auf dem Prinzip, dass nichts Äußerliches, Materielles oder Kreatürliches dem Menschen das Heil vermitteln kann. Das Schwenkfeldertum sei aber keine Mystik, sondern eine bibelorientierte, christozentrische Frömmigkeit. Am Anfang des eigenständigen theologischen Denkens von Schwenckfeld und Krautwald stand der Gedanke, dass die Sakramente keine wirksamen Gnadenmittel sein können. Daraus entstand ein theologisches System, das den Ursprung des Heils allein auf die Person Christi, den inkarnierten Logos, die Erlösung allein auf die Gnade und die Grundlage religiöser Erkenntnis allein auf die Schrift zurückführte. Obwohl in diesem System die typischen mystischen Begriffe und Konzepte fehlen und ein direkter Zusammenhang mit der Mystik nur über die Kirchenväter vorliegt, fallen doch, so Rothkegel, einige strukturelle Analogien zwischen der Lehre Schwenckfelds und der Mystik sofort ins Auge: einerseits die Vorstellung von einem innerlich-geistigen Weg zum Heil, der keiner äußerlichen Vermittlung durch Sakramente, Priester oder Kirche bedarf, andererseits die Vorstellung von einem Prozess der Heilszueignung, ein lernender Aufstieg und eine sittliche Verbesserung in Stufen oder allmähliche Vergottung des Menschen.
Rothkegel nannte die anfängliche Haltung der Schwenckfeld-Anhänger nonkonfrontativen Nonkonformismus. Doch mit der Ausarbeitung einer spekulativen, die menschliche Natur Jesu leugnenden, nur seine Glorie bekennenden Christologie wurde Schwenckfeld in den Augen der Kirche vollends zum Häretiker. Durch die Verfolgungen der Gegenreformation unter den Habsburgern wichen die Schwenckfelder in den südwestdeutschen Raum aus oder emigrierten in die Religionsfreiheit Pennsylvaniens, wo es bis heute eine Schwenckfelder Church mit Bibliothek, Museum und Kulturzentrum gibt. Die Erbauungsschriften und Briefe Schwenckfelds, der taub war und völlig zurückgezogen lebte, kursierten im klandestinen Netzwerk seiner Anhänger noch etwa eine Generation nach seinem Tod weiter und füllen in der zwischen 1907 und 1961 veranstalteten amerikanischen Ausgabe 19 starke Foliobände. Dagegen gibt es von seinem älteren und ungleich gebildeteren Mentor und theologischen Inspirator, dem Neißer Kanonikus Valentin Krautwald, einem der besten Kenner des Griechischen und der Kirchenväter im damaligen Schlesien, nur Vorlesungsmitschriften seiner Schüler. Nach seinem Bekehrungserlebnis verbrannte er alle seine Schriften und lehrte als Theologieprofessor an der Universität Liegnitz. Insgesamt können, so Rothkegel, Krautwalds Bibel-Auslegungen als die gelehrtesten und umfangreichsten der frühen radikalen Reformation gelten. In Schwenckfeldischen Kreisen kursierten sie bis ins frühe 17. Jahrhundert. Der erste Band einer dreibändigen wissenschaftlichen Edition der Vorlesungen Krautwalds erschien 2022 als Supplement zum Corpus Schwenckfeldianorum, herausgegeben von Rothkegel selbst.
Da Prof. Dr. Jan Harasimowicz aus Breslau mit einem Vortrag über mystische Implikationen im Werk des Barockmalers Michael Willmann (1640–1706) krankheitshalber ausfiel, sprang spontan Dr. Bernhard Jungnitz ein, indem er Eindrücke von Wandertagen in Schlesien im September 2022 schilderte, mit Fotos illustrierte und mit historischen Exkursen ausbaute. Seit 2016 bietet das Heimatwerk an, sich an solchen Wandertagen zu beteiligen, nicht zuletzt um Begegnungen auch mit deutschen und polnischen Bewohnern Schlesiens zu ermöglichen. Stationen waren im vorigen Jahr Bad Warmbrunn und Bad Salzbrunn, Görbersdorf im Waldenburger Bergland, Schreiberhau sowie ein Ausflug nach Breslau mit Stadtbesichtigung von der Oder aus.
Über seinen Görlitzer Landsmann und Bürgermeister, Mathematiker, Kartograph und Astronom Bartholomäus Scultetus (1540–1614) referierte Dr. Matthias Paul. Er zeichnete zunächst dessen Leben nach und umriss die unübersichtliche politische Lage der damals zu Böhmen gehörenden Oberlausitz. Erst 2018 sei Scultetus durch einen über ihn publizierten Aufsatz ein Platz in der Kirchengeschichtsschreibung zugewiesen worden. Entsprechend schwierig gestaltete sich für den Referenten die Einordnung dieser Gestalt in das, was unter Mystik verstanden werden kann. Er versuchte den Wanderer zwischen den Welten von mehreren Seiten zu fassen, von seinem Studium in Wittenberg, wo er dem alten Melanchton, und in Leipzig, wo er Pfr. Johann Hummel und Tycho Brahe begegnete. Scultetus war Görlitzer Stadtrat, Bürgermeister und Kirchenverwalter, führte den gregorianischen Kalender ein, fertigte Horoskope an, baute astronomische Instrumente, pflegte Kontakte zu Anhängern des Paracelsus und Schwenckfelds sowie zu jüdischen Gelehrten, war in seiner Gottesvorstellung aber doch erstaunlich konservativ, lutherisch und kirchlich. Wenngleich kein Theologe, veröffentlichte er 1600 ein Buch, das sich auf 500 Seiten akribisch genau mit dem Leben Jesu von seiner Geburt bis zu seiner Himmelfahrt befasst und dem Leser so klar vor Augen stellt, als wäre er stündlich dabei. Solch ein Werk war für Scultetus notwendig, hatte doch die Gelehrtheit der Juden sie blind gemacht für das entscheidend Neue. Textkritik, astronomische, geografische und geschichtliche Bestimmungen verhalfen dem Verfasser zu so minuziöser Darstellung. Sie soll Hilfsmittel sein zu vertiefendem Schriftstudium und Verfeinerung der Glaubenspraxis. In diesem Werk geht der Autor auch auf Ignatius von Antiochien und Dionysios Areopagita ein, besonders letzterer bedeutend für die Geschichte der Mystik. Es liege auch nahe, beschloss Dr. Matthias Paul seinen Vortrag, dass Scultetus über seinen Görlitzer Landsmann Martin Moller Kenntnisse über mystische Traditionen erhielt.
Hans-Wilhelm Pietz aus Görlitz, evangelischer Theologe, Pfarrer, ehemaliger Dozent und Regionalbischof sowie Vorsitzender des Vereins für schlesische Kirchengeschichte, befasste sich mit dem Thema „Schlesische Mystik im Werk Hermann Stehrs (1864 – 1940) – ein kritische Relektüre“. Der Name Hermann Stehr, seine Lebensgeschichte und sein literarisches Werk seien heute weithin unbekannt. Vor allem seien es der Gebrauch, den die nationalsozialistische Literaturpolitik von seinen Worten und seinem Verhalten machte, und die von Stehr teils geduldete, teils noch beförderte Vereinnahmung seiner Gedanken- und Sprachwelt durch die NS-Ideologie, die eine Stehr-Rezeption nach dem Ende des 2. Weltkriegs weitgehend abbrechen ließ. Nur an wenigen Orten, wie dem Hermann-Stehr-Archiv in Wangen im Allgäu, wurde sein Beitrag zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte noch erforscht und präsent gehalten. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es eine rege Stehr-Forschung vor allem in Polen. Viel gelesen wurden Stehrs Romane, Erzählungen und Gedichte am Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit. Vor hundert Jahren war sein Name ein Inbegriff für wesentliche Aspekte und Gestalten schlesischer Mystik. Stehr wusste zu rühmen, dass der Mensch gerade in den Tönen und Bewegungen der Zeit der Ewigkeit teilhaftig ist. Die Schau des Jenseits im Diesseits, der Zusammenklang der Wirklichkeit mit Gott war sein Thema. Martin Buber würdigte ihn als echten Mystiker und zugleich echten Erzähler und bekannte, er wisse keinen andern, in keiner Literatur, von dem das gälte. Stehr erzähle das Zeitlose. Der Referent warf einen Blick auf Stehrs Lebenslauf, inklusive problematischer Aspekte seiner Persönlichkeit, bis hin zu seinem Nachruhm als „Dichter der Deutschen“, bevor er auf die zentrale Perspektive seines Dichtens einging: zu sich selber kommen als Weg zum wahren Leben und zu Gott. Ferner beleuchtete Pietz einige der Türen zur Erfüllung in Stehrs Werk: das Kind, das Lied, das Licht, der Weise und die Andacht respektive der Kunst als Andachtshilfe. In einem kritischen letzten Kapitel zeigte er die Problematik der Mystik Hermann Stehrs auf. Der Mut zum Sein und gegen die Entfremdung sei eine Vorwegnahme existenzialistischer Ansätze. Diese mystische Frömmigkeit komme ohne Gott als gnädig und streng begrenzendes Gegenüber aus und unterliege der Gefahr, den Menschen zu verabsolutieren. Die Endlichkeit des Menschen könne gegenüber seiner Entgrenzung jedoch auch als Wohltat begriffen werden. Dass Mystik neben einer Befähigung zum Widerstand auch ihre Abgründe der Gefährdung und Verführbarkeit hat, ist bei Hermann Stehr exemplarisch zu erfahren.
Text & Bilder: Stefan P. Teppert