Publikation: Das Buch der im Jahr 1945 Festgenommenen, Internierten und aus Oberschlesien in die Sowjetunion Deportierten

46.000 oberschlesische Schicksale in drei Bänden

Mit Dr. Dariusz Węgrzyn, dem Autor der Publikation, sprach Dawid Smolorz.

Nach der Besetzung Oberschlesiens durch die Rote Armee 1945 wurden mehrere Tausend Oberschlesier aus dem deutschen und dem polnischen Teil der Region als „lebende Kriegsreparation“ in die Sowjetunion verschleppt. Wurde auch Ihre Familie von den Deportationen betroffen?

Nein. Ich habe keine oberschlesischen Wurzeln. Niemand aus meiner Familie wurde 1945 in die Sowjetunion verschleppt.

Was hat Sie dann veranlasst, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?

Das ist eine schwierige Frage. Ich bin ein ziemlich hartnäckiger Mensch. Nachdem ich nach Oberschlesien gezogen war, hörte ich immer wieder, wie wichtig das Thema der Deportation der Oberschlesier sei und wie wichtig es wäre, namentliche Listen der Opfer zu erstellen. Besonders laut wurden solche Stimmen jedes Jahr im Januar und im Februar, wenn an den Einmarsch der Roten Armee in der Region erinnert wurde. Da diese Diskussionen aber meistens fruchtlos blieben, beschloss ich, dass ich mich damit beschäftigen werde.

Wie lange dauerte die Arbeit an dem „Buch der Festgenommenen…“?

Ich muss zugestehen, als ich mit der Arbeit begann, war ich überhaupt nicht sicher, ob ich sie jemals mit Erfolg zu Ende bringen würde. Denn zu diesem Thema fehlte es sogar an Teilstudien, die sich an einzelne Städte und Gemeinden beziehen würden. An der Datenbank, die das Fundament des Bandes bildet, arbeitete ich vor allem nachts. Über lange Zeiträume widmete ich diesem Projekt mehrere Stunden am Tag, und zwar sieben Tage die Woche. Und so vergingen 15 Jahre. Man darf nicht vergessen, dass ich in dieser Zeit auch einer „normalen“ wissenschaftlichen Arbeit nachgehen musste, Artikel schrieb und Bücher verfasste. Trotz der großen Nachsicht meiner Vorgesetzten, insbesondere Professor Adam Dziurok vom IPN Kattowitz (Instytut Pamięci Narodowej, Institut für Nationales Gedenken, Anm. d. Red.), war es mir nicht möglich, mich nur auf dieses eine Projekt einzuschränken.

Ihrem Werk liegen Unterlagen aus polnischen, deutschen und russischen Archiven zugrunde. Gibt es Dokumente, von deren Existenz Sie wissen, die Sie aber nicht einsehen konnten oder durften?

Es wäre perfekt gewesen, wenn ich auch auf die in den Moskauer Archiven aufbewahrten Akten der Deportierten hätte zurückgreifen können. Dies erwies sich jedoch aus mehreren Gründen als unrealistisch. Selbst wenn ich pro Tag hätte die Akten von zehn Personen einsehen dürfen, was in russischen Archiven oft die maximale Anzahl ist, hätte meine Recherche dort mehrere Jahre gedauert.

Haben Sie während Ihrer Arbeit auch Interviews mit noch lebenden ehemaligen Häftlingen geführt?

Leider konnte ich nur mit wenigen Menschen sprechen, die von der „unmenschlichen Erde“ zurückgekehrt waren. Das lag daran, dass die meisten Zeugen dieser tragischen Ereignisse bereits tot waren, als ich mit meiner Arbeit begann. Was mich in meinen Gesprächen mit den Verschleppten überraschte, war ihre Fröhlichkeit. Sie erzählten mir, der Schlüssel zum Überleben unter diesen extrem schwierigen Bedingungen bestand darin, sich ein konkretes Ziel zu setzen, etwa: „du sollst bis zum nächsten Tag überleben“. In dieser Methode der „kleinen Schritte“ haben die Menschen eine Chance gesehen, lebend nach Hause zurückzukommen.

Welche Informationen enthalten die Biogramme der einzelnen Zwangsarbeiter?

Den Vor- und Nachnamen, den Namen des Vaters, Geburtsort und -datum, Wohnort im Jahr 1945, Beruf, Datum der Verhaftung durch den NKWD oder die Spionageabwehr der Roten Armee, Angaben über den Verschleppungsort (Stadt bzw. Lager), Sterbedatum und -ort sowie Namen von Zeugen, also Mitgefangenen. Bei den Überlebenden wird überdies jeweils das Datum der Rückkehr nach Polen bzw. Deutschland genannt. Jedes Biogramm enthält ferner die Quellen meiner Informationen. Selbstverständlich war es nicht bei allen Deportierten möglich, all diese Daten zu ermitteln.

Die Publikation enthält Angaben zu 46.202 Personen. Mehr als 10.000 von ihnen starben in den sowjetischen Lagern oder wurden dort ermordet. Können wir davon ausgehen, dass wir mittelweile die Namen aller oder fast aller Deportierten kennen oder gibt es immer noch größere Lücken?

Während meiner langjährigen Arbeit an dieser Publikation habe ich mich mehrmals über die Massenmedien an die Angehörigen der Verschleppten gewandt und gebeten, mir Informationen über ihre Nächsten zukommen zu lassen. Gleichzeitig bekam ich auch Anfragen nach dem Schicksal der Menschen, die 1945 vom NKWD festgenommen worden waren und von denen sich jede Spur verloren hatte. Bei solchen Anfragen handelte es sich zu über 95 Prozent um Personen, die ich in meiner Datenbank bereits hatte. Daraus schließe ich, dass ich die Namen fast aller Deportierten ermitteln konnte. An dieser Stelle möchte ich mir noch eine Bemerkung erlauben. Sehr viele wertvolle Informationen bekam ich von Privatpersonen. Regionale Organisationen haben mich dagegen bei der Ermittlung der Daten der Verschleppten meistens nicht unterstützt. Die einzige Ausnahme waren lokale Organisationen der deutschen Minderheit.

Ein sowjetisches Arbeitslager in Sibirien. Quelle: Wikimedia Commons, Russisches Staatsarchiv, Moskau.

Gibt es im Zusammenhang mit den Deportationen der Oberschlesier in die Sowjetunion immer noch Bereiche, über die wir wenig wissen?

Die Berichte der Überlebenden enthalten relativ wenig Informationen über das alltägliche Leben in den Lagern. Natürlich erwähnen sie die harte Arbeit, den Hunger, den allgegenwärtigen Tod, aber sie sagen wenig darüber aus, wie Menschen in den Lagern zurechtkamen. Das liegt daran, dass vor allem Männer deportiert worden waren, die nach der Heimkehr nur ungern über ihre traumatischen Erfahrungen sprachen.

Ihr großes Werk ist jetzt fertig. Heißt das, Sie konzentrieren sich nun auf andere Themen oder werden Sie sich in irgendeiner Form weiterhin mit den Verschleppungen oder allgemein mit den Ereignissen des Jahres 1945 in Oberschlesien auseinandersetzen?

Ich arbeite derzeit an einer monographischen Studie über die Deportation der Oberschlesier in die Sowjetunion von 1945. Darüber hinaus habe bereits beschlossen, die Erfahrungen anderer deutscher oder als deutsch geltender Gemeinschaften aus Mittel- und Osteuropa zu vergleichen, welche in der Endphase des Zweiten Weltkriegs von den Deportationen in die UdSSR ebenfalls betroffen waren. Denn trotz mancher Unterschiede weist das Schicksal der Siebenbürger Sachsen, der Banater Schwaben, der Ungarndeutschen und der Zivilisten aus Ostpreußen viele Ähnlichkeiten mit dem der Oberschlesier auf. Durch einen solchen Vergleich wird das Bild der Internierung auf „unmenschlicher Erde“ vollständiger sein, als wenn man es nur auf der Grundlage der Berichte der Oberschlesier rekonstruiert. Obwohl die Gruppen aus verschiedenen Regionen Europas stammten, stellte die Zwangsarbeit in der Sowjetunion für alle von ihnen eine gemeinsame Erfahrung dar.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

„Księga aresztowanych, internowanych i deportowanych z Górnego Śląska do ZSRR w 1945 roku“ [Das Buch der im Jahr 1945 Festgenommenen, Internierten und aus Oberschlesien in die Sowjetunion Deportierten], Autor: Dariusz Węgrzyn, Sprache: Polnisch, 3 Bände (Bd. 1: A – J, Bd. 2: K – 0, Bd. 3: P – Ż), Seiten: 1.036 (Bd. 1), 1.012 (Bd. 2), 1.156 (Bd. 3), Herausgeber: Institut für Nationales Gedenken IPN, Büro Kattowitz (Katowice), Bestellungen:

www.ksiegarniaipn.pl/ksiazka/ksiega-aresztowanych-internowanych-i-deportowanych,512026

Dr. Dariusz Węgrzyn. Quelle: Privatarchiv Dr. Dariusz Węgrzyn.

Dr. Dariusz Węgrzyn, Autor der Publikation, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Schlesischen Zentrum für Freiheit und Solidarität in Kattowitz (Śląskie Centrum Wolności i Solidarności w Katowicach), früherer Mitarbeiter des Kattowitzer Büros des Instituts für Nationales Gedenken (IPN, Instytut Pamięci Narodowej).

Text: Dawid Smolorz