Wenn die Steine sprechen könnten…

Der alte Friedhof in Breslau-Krietern (Krzyki) bekommt seine Würde zurück

Die Initiative von Alan Weiss verbindet materielles Erbe mit Geschichten über Menschen auf dem Friedhof.

Am 9. November 2024 war der alte Friedhof im Breslauer Stadtteil Krzyki (Krietern) Schauplatz einer bemerkenswerten Veranstaltung. Im Rahmen von „ReActMem: Rescue Memory – Activism, Arts and Public Remembrance” hat der Verein Spod ziemi patrzy Breslau (Breslau schaut aus der Erde hervor) zu einem Spaziergang und Konzert eingeladen. Der Vorsitzende des Vereins, Dr. Alan Weiss, führte um die Hundert Besucher durch den Friedhof. Dabei erzählte er auch einige Geschichten von ehemaligen Bewohnern, die er ausgehend von den Informationen auf der Grabplatten recherchiert und rekonstruiert hat.

Friedhof der evangelischen Gemeinde

Krietern war bis 1928 ein Dorf in der Nähe von Breslau, heute ist Krzyki der südliche Viertel der Stadt Wrocław. Der kleine Friedhof in Krietern in der Krzycka-Str. 45 (bis 1928 Breslauer Str., dann Tretinstr.) wurde wahrscheinlich am Anfang des 20. Jahrhunderts für die Gläubigen der evangelischen Gemeinde angelegt (er wurde von der Erlöser-, Salvator- und Johanneskirche genutzt). Die älteste Grabsteinplatte kommt vom Ende des 19. Jahrhunderts.

Das erste Mal taucht der Friedhof im Adressbuch des Jahres 1914 und im Jahre 1919 wurde der damalige Friedhofsvorsteher Wilhelm Tietze erwähnt. Aus der Presse wissen wir, dass er zugleich ein leidenschaftlicher Imker war. Auf dem Friedhof wurden sein Grabstein sowie die Grabsteinplatte von seiner Frau und seiner Tochter gefunden. Es ist gar nicht so selbstverständlich, denn in den 1960-70er Jahren wurden 44 von ca. 70 deutschen Friedhöfen in Breslau beseitigt, dem Erdboden gleichgemacht. Der Friedhof in Krietern wurde 1958 geschlossen, aber nicht abgeschafft. Eine Seltenheit in Breslau.

Deutsche und polnische Gräber

Was interessant ist, man kann hier auch polnische Gräber finden. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente der Friedhof als Begräbnisstätte für die neuen Bewohner der polnisch gewordenen Stadt Wrocław. Auf vielen Tafeln ist zum Beispiel Lviv (Lemberg) als Geburtsort angegeben. Die letzten Beerdigungen fanden hier 1958 statt. Danach wurde der Friedhof geschlossen und der römisch-katholischen Pfarrgemeinde übergeben.

Auf dem Gelände blieben einige deutsche Gräber, ein großer Teil wurde jedoch platt gemacht und die Grabsteinplatten auf einen großen Haufen im hinteren Teil des Friedhofes abgeräumt und mit Erde zugeschüttet. So lagen sie einige Jahrzehnte lang und gerieten in Vergessenheit. Jetzt kam endlich die Möglichkeit, sie auszugraben, zu restaurieren und hinzustellen. Bald entsteht hier mit dem Lapidarium ein Erinnerungsort an die ehemaligen Einwohner von Krietern – die Deutschen und die Polen.

Breslau schau aus der Erde hervor

Schon vor zwei Jahren hat Dr. Alan Weiss zusammen mit anderen Freiwilligen von der Initiative Spod ziemi patrzy Breslau mit Aufräumen auf dem Friedhof angefangen. Sie haben auch Spaziergänge und Workshops organisiert, um das Interesse der Einwohner für diesen Ort zu wecken. Viele Freiwillige haben sich der Initiative angeschlossen, darunter der Steinmetzmeister Dariusz Dembiński, der den Anderen zeigte, wie man Grabsteinplatten professionell putzen und erneuern soll.

Die großen Arbeiten konnten jedoch nicht ohne finanzielle Unterstützung und Einsatz von schweren Maschinen stattfinden. Jetzt ist es so weit. Die Initiative „Unter der Erde schaut Breslau hervor“ realisiert zusammen mit der Stiftung Urban Memory und zwölf Partnern aus Europa ein Projekt „ReActMem: Rescue Memory – Activism, Arts and Public Remembrance“, das aus UE-Mitteln im Rahmen des Programms CERV (Citizens, Equality, Rights and Values) finanziert wird.

In den letzten zwei Wochen wurde etwa 50 Grabsteinplatten ausgegraben (einige in Gänze, einige in Teilen), deren Zustand die Identifizierung der auf dem Friedhof begrabenen Personen ermöglicht. Außerdem wurden Fragmente von mehreren Dutzend Grabsteinen gefunden, darunter auch Grabplatten von Polen aus der Nachkriegszeit. Ab Frühjahr beginnen die Arbeiten am Lapidarium. Der Gedächtnisort für die deutschen und polnischen Einwohner von Krietern soll in zwei Jahren fertig sein. „Wir wollen nicht nur Grabsteinplatten aus dem örtlichen Friedhof, sondern auch aus anderen Teilen von Wrocław versammeln. Vor kurzem erhielten wir zum Beispiel Grabsteine, die bei archäologischen Arbeiten auf dem Gelände einer ehemaligen Poliklinik in der ul. Ślężna (Lohe-Straße) ausgegraben wurden“, so Alan Weiss.

Auf dem Friedhof wurden auch Tafeln mit den Grabnummern gefunden. Die Nummerierung reicht über die Zahl fünfhundert hin, was vermuten lässt, dass auf dem Friedhof über ein Tausend Personen begraben wurden. Leider sind keine Friedhofsbücher erhalten geblieben, man kann aber die Todesscheine der einzelnen Personen finden. Dr. Alan Weiss wird sich bemühen, die Schicksäle der Menschen zu rekonstruieren, zu beschreiben und zu popularisieren.

Die Geschichte der Marianne Nietsch

Einiges konnte er auf diese Weise schon entdecken. Als Beispiel kann die Grabsteinplatte von Marianne Nietsch dienen. Marianne starb im Alter von nur 16 Jahren im Juli 1919. Die Informationen aus den Presseberichten fügen sich zu einer romantischen und kriminellen Geschichte zusammen. Marianne verschwand am 24. Juli 1919 und wurde Anfang August erschossen im Kornfeld von Hartlieb (Partynice) gefunden. Das Mädchen hatte als Stenotypistin bei einem Justizrat gearbeitet. Artur Schröder, 24 Jahre alt, arbeitete ebenfalls in dieser Firma. Die Zeugen berichteten, dass Marianne und der verheiratete Artur ein Liebesverhältnis hatten. Artur verschwand am 24. Juli – er hat 10 000 Mark aus der Firma unterschlagen – und begab sich mit dem Geld auf Reisen. Am 8. August stellte er sich selbst der Polizei und gestand nicht nur die Unterschlagung ein, sondern gab zu, das Mädchen erschossen zu haben. „Er habe sie loswerden wollen“. Doch im April 1920 gab Schröder vor Gericht eine andere Version der Ereignisse wieder. Er gab an, Marianne habe sich mit seinem Revolver erschossen. Und diese Version wurde endgültig bestätigt. Das Gericht verurteilte ihn – unter Berücksichtigung seiner Kriegsteilnahme – zu sechs Jahren Gefängnis als Strafe nur für die Geldunterschlagung.

Spaziergang und Konzert machen auf die Initiative aufmerksam

Diese und andere Geschichten erzählte Dr. Alan Weiss während des historischen Spazierganges, der am 9. November 2024 auf dem Friedhof organisiert wurde. Nach dem Spaziergang wurde ein Allerheiligen-Konzert organisiert. Drei Frauen: Katarzyna Czekanowska (Sopran), Natalia Akinina-Kalada (Mezzosopran) und Natalia Czekanowska (E-Piano) haben den Teilnehmern „Stabat Mater“ von Giovanni Battista Pergolesi gesungen.

Text und Bilder: Małgorzata Urlich-Kornacka

In der Galerie unten sehen Sie weietre Bilder von der Veranstaltung, Fot. Adam Marecik, Quelle: Spod ziemi patrzy Breslau