Breslau im Sechstage-Rennen-Fieber

In den 1920er Jahren waren die Sechstagerennen im Radsport eine der größten Sportattraktionen in Breslau

Nur wenige Städte in der Welt waren in der Lage, solche Veranstaltung zu organisieren.

In den 1920er Jahren waren die Sechstagerennen im Radsport eine der größten Sportattraktionen in Breslau. Sie wurden auf der Bahn in der Jahrhunderthalle ausgetragen. Die Odermetropole gehörte zu den wenigen Städten in der Welt, die in der Lage waren, eine solche Veranstaltung zu organisieren.

Günter Grass hat in seinem Buch „Mein Jahrhundert“, in dem er die wichtigsten Ereignisse und Zeitströmungen des 20. Jahrhunderts Revue passieren lässt, auch die Geschichte des Sechstagerennens erzählt, das 1909 in Berlin veranstaltet wurde. Es war im Allgemeinen der erste Wettbewerb dieser Art in Deutschland.

Zu dieser Zeit waren Bahnradrennen in vielen Ländern auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, so auch in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, in der Schweiz und in den Niederlanden. Und außerhalb Europas, in mehreren Großstadtregionen der Vereinigten Staaten. Warum gerade diese Art von Radrennen?

Es war eine Epoche, die von der Geschwindigkeit fasziniert war, die nach Sensationen strebte, die außergewöhnliche Erlebnisse liebte und die Helden schaffen wollte. Mit anderen Worten: Es war bereits modern. Der Automobilsport steckte damals noch in den Kinderschuhen und auch der Straßenradsport, und es war unmöglich, ihn live zu verfolgen. Der Bahnsport hingegen bot alles, was das Publikum wollte, an einem Ort und zu einer Zeit: Geschwindigkeit, Wettbewerb, Spannung und sofortige Sensation. Dies war zweifellos die Sportart Nummer eins, die Tausende von Zuschauern anlockte, während Fußball zu dieser Zeit nur wenige interessierte.

Die Sechstagerennen waren jedoch innerhalb des Bahnradrennens das absolute Highlight. Sie zogen die Besten an und waren die schwierigsten, denn sie erforderten eiserne Ausdauer, außergewöhnliche Schnelligkeit und eine unerschütterliche Psyche. Man musste also die Fähigkeiten eines Sprinters und eines Langstrecklers besitzen und das Potenzial für einen Helden, der sich weder von kurzen Rückschlägen noch von großen, lang anhaltenden Anstrengungen unterkriegen ließ.

Sechstage-Renne als Winterdisziplin

Solche Rennen wurden nur im Winter ausgetragen. Daher brauchte man einen ausreichend großen Veranstaltungsort, um die Radrennbahn und mindestens mehrere tausend Zuschauer unterzubringen. Der letztgenannte Aspekt war sehr wichtig – schließlich handelte es sich um eine kommerzielle Veranstaltung. Investoren steckten Geld hinein und erwarteten eine Rendite.

Diese Rennen wurden als einzigartige Großstadtattraktion angesehen und wurden nur in einer Handvoll Städte auf der Welt ausgetragen. Das erste Rennen dieser Art – in einem Format, das weltweit übernommen wurde (Zweier-Mannschaftsfahren, auch „Madison“ oder „Américaine“ genannt) – fand 1899 im Madison Square Garden in New York statt.

Die Idee, ein solches Rennen in Breslau zu veranstalten, entstand bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Es gab zwar eine große Radrennbahn in der Stadt, aber es handelte sich um eine nicht überdachte, typische Sommeranlage. Seit 1913 gab es in der Stadt jedoch bereits einen geeigneten Veranstaltungsort für das Sechstagerennen: die Jahrhunderthalle.

Der Ausbruch des Krieges machte diese Pläne jedoch zunichte. Kurz darauf kehrten sie zurück. 1919 stimmte der Magistrat immer noch nicht zu. Auch Max Berg war entrüstet. Der Architekt der Jahrhunderthalle sah darin eine „Profanierung seines Kunstwerks“. Ein Jahr später änderte der Magistrat seine Meinung. Und Max Berg musste sich mit der neuen Funktion seines Meisterwerks arrangieren. Das erste Sechstagerennen in Breslau begann am 26. Dezember 1920.

Etwas für Bahnradsport-Experten

Doch wie sah das Sechstagerennen eigentlich aus? Typischerweise traten Zweierteams an, von denen einer immer auf der Strecke sein musste. Das Team, das eine größere Distanz als seine Konkurrenten zurücklegte, d. h. mehr Runden fuhr, gewann. Bei gleicher Rundenzahl entschieden die Punkte, die bei den während des Rennens stattfindenden fliegenden Zielankünften erzielt wurden. Kompliziert?

Bei mehr als einem Dutzend teilnehmenden Teams war das Bild auf der Strecke in der Tat recht unübersichtlich. Zumal sie auf kurzen Bahnen (in Breslau in der Regel 180 Meter) antraten, so dass die Dynamik des Geschehens viel größer war als auf offenen Bahnen (z. B. 400 Meter in Breslau). Es mag den Anschein gehabt haben, dass all diese Ereignisse für die Zuschauer schwer zu verfolgen waren. Aber ein Großteil des Publikums in Breslau bestand aus erfahrenen Bahnradsport-Experten.

Es gab jedoch Zeit für eine relative Ruhe für die Teilnehmer (und Fans). Von 6 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags gab es eine sogenannte Neutralisierung des Rennens. Jedes Team musste einen Vertreter auf der Strecke haben, aber es wurden keine Runden gezählt, es gab keine fliegenden Zieleinläufe, sondern nur Drehrunden. Und dann, Punkt Mittag, ging es wieder los.

Sechstage-Fieber

Die Premiere des Sechstagerennens in Wrocław war nicht ganz erfolgreich. In der Jahrhunderthalle war es kalt, das Tempo war schlecht, das Publikum war nicht sehr zahlreich, und die Organisatoren mussten das Geschäft aufstocken. 1924 wurde das zweite Sechstagerennen im Februar veranstaltet. Das sportliche Niveau war bereits hoch, aber die Veranstaltung machte erneut einen finanziellen Verlust.

In den 1920er Jahren fand die Winterbahn in der Jahrhunderthalle jedoch fast jedes Jahr statt. Dort wurden auch Rennen in anderen Formaten ausgetragen. So gab es beispielsweise 25-Stunden-Rennen, 400-Runden-Rennen oder Sprinterwettbewerbe über eine, zwei oder drei Stunden. Dabei wurden sie meistens nach den Regeln des Sechstagerennens organisiert.

Das dritte „Sechstagerennen“ fand im Februar 1926 statt. Es war der 100. Wettbewerb dieser Art in der Welt. Und es war ein Ereignis, für das die ganze Stadt lebte. Die Stadt wurde von einem wahren Sechstage-Fieber überrollt. Die Redaktion der Breslauer Neuesten Nachrichten stellte sogar einen „Lauftext-Bildschirm“ in der Innenstadt auf, damit die Fans möglichst aktuell über das Geschehen an der Strecke informiert werden konnten. Auch eine Radioübertragung fand statt. Das Siegerpaar war Piet van Kempen und Ernst Feja.

Ersterer war ein Niederländer, der in der Radsportwelt als „König der sechs Tage“ bekannt war. Der zweite war ein Fahrer aus Breslau, der nur lokal bekannt war und noch nie an einem solchen Rennen teilgenommen hatte. Im Vorfeld des Rennens war vielfach behauptet worden, dass es keine gute Idee sei, diese beiden Fahrer in einem Team zu vereinen. Ihr Sieg war daher trotz des Rufs und der großen Erfahrung von van Kempen eine ziemliche Überraschung. Den dritten Platz belegte das Breslauer Paar Willy Rieger und Fritz Knappe.

„Rie-gah, Rie-gah“

Anzumerken ist, dass die Rennen in Breslau regelmäßig international besetzt waren. Neben deutschen Reitern sah man dort auch Italiener, Amerikaner, Niederländer oder Belgier. Von den Breslauer Berufssportlern, die bei den Sechstagerennen antraten, war Rieger der talentierteste und wurde auch in der Odermetropole am meisten bewundert. Zeitweise schallte es unter der Kuppel der Jahrhunderthalle nur: „Rie-gah, Rie-gah“. Auch international war er hoch angesehen. 1929 erhielt er einen Vertrag in den USA und trat dort auf bei den härtesten Bahnradrennen, die damals in der Welt stattfanden: Sechstagerennen in New York und Chicago. Er war nicht erfolgreich und unterlag dazu noch einer Verletzung.

Das Ende der Sechstage-Welt

Das wohl spannendste Sechstagerennen in Breslau fand im Februar 1930 statt. Es war das siebte Rennen dieser Art in der Jahrhunderthalle. Unglaubliches, „teuflisches Tempo“, harte Kämpfe, ständige Wechsel – es gab alles, was man brauchte. „Es ist ziemlich amerikanisch auf dem kleinen Holzoval“ – schrieb die Presse.

Das Innere der Jahrhunderthalle in Breslau. Quelle: polska-org.pl

Doch wie es sich herausstellte, war dies bereits der Niedergang der Sechstagerennen-Epoche, nicht nur in Breslau, sondern in ganz Deutschland. Das neunte Rennen in der Jahrhunderthalle wurde im März 1933 veranstaltet, aber nach 55 Stunden wurde der Wettbewerb abgebrochen. Das war das Ende der Veranstaltung. Das Problem war die massive Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit. Die Leute konnten sich die Eintrittskarten nicht leisten. Das zweite Problem war die Veränderung des politischen Klimas. Diese „amerikanische Erfindung“ war völlig unvereinbar mit der nationalsozialistischen Auffassung von Sport.

Nach 1945 wurde die Jahrhunderthalle für den Sport genutzt, aber meistens spielten dort Basketballer. Und das ist auch heute noch so. Die Tribünen fassen mehrere tausend Fans. Ob Max Berg empört wäre, ein solches Spiel unter der Kuppel seiner Schöpfung zu sehen?

Text: Sławomir Szymański