Ein bunter Tag in einem grauen Viertel

Fronleichnamsprozession in Lipine (Lipiny)

Einmal im Jahr verwandelt sich das sonst graue Viertel in die Hauptstadt der oberschlesischen Folklore. Teilnehmer einer bunten Prozession tragen mit Stolz die regionale Tracht.

An einem Tag im Jahr – am Frohleichnam – verwandelt sich das sonst graue Lipine (Lipiny) in die Hauptstadt der oberschlesischen Folklore. Durch die Straßen zieht eine bunte Prozession, deren Teilnehmer mit Stolz die regionale Tracht tragen.

Bis in die 1960er Jahre galt Lipine, heute Stadtteil von Schwientochlowitz (Świętochłowice), als Viertel der fahrenden Lumpensammler. Damit wollte man aber keineswegs sagen, es sei eine arme Gegend. Vielmehr handelte es sich dabei um eine Information darüber, dass ein Teil der Einwohner einem spezifischen Gewerbe nachging. Der kleinere Teil wohlgemerkt, weil die meisten Lipiner – genauso wie die Menschen in den umliegenden Städten und Stadtteilen –  im Bergbau oder in der Hüttenindustrie arbeiteten. Nach der politischen Wende von 1989 kam die Umstrukturierung, die dem industriellen Kapitel in der Geschichte von Lipine abrupt ein Ende setzte. Seit den späten 1990er Jahren wurde der Ort immer mehr zu einem Problemviertel. Oft bringt man deshalb Arbeitslosigkeit, Kriminalität und hohen Alkoholkonsum fast automatisch mit Lipine in Verbindung. Auch wenn der schlechte Ruf nur teilweise verdient ist, machen beschmierte Fassaden, Leerstände und Müllhalden in den Innenhöfen tatsächlich einen deprimierenden Eindruck.

Einmal im Jahr wird aber das Viertel bunt. Am Fronleichnam schmücken die Bewohner die Fenster ihrer meist grauen Bürger- und Arbeiterhäuser mit weißen Tischdecken, Blumen sowie Heiligenbildern und -figuren. Anschließend zieht eine Prozession durch das Viertel, wobei viele sowohl weibliche als auch männliche Teilnehmende in Tracht bekleidet sind. Das Ereignis lockt Fotografen, Touristen und Gläubige aus benachbarten Pfarrgemeinden, die an diesem Tag an der Lipiner Prozession teilnehmen wollen. Es sind wohl die Kontraste zwischen der lebendigen Tradition und der fröhlichen Frömmigkeit einerseits und der nahezu depressiv wirkenden Kulisse andererseits, die den Ort an diesem besonderen Tag zu einer Sehenswürdigkeit von lokalübergreifender Bedeutung machen. Nicht sehr übertrieben sind die Vergleiche mit den ebenfalls bunten Prozessionen, die aus verschiedenen religiösen Anlässen in armen Vierteln südamerikanischer Großstädte stattfinden. 

Seinen einzigartigen Charakter verdanken die Fronleichnamsprozessionen in Lipine weitgehend dem lokalen Aktivisten Grzegorz Stachak. Nicht nur setzte er sich mit großem Engagement für die Wiederbelebung der altehrwürdigen Tradition, zur Fronleichnamsprozession oberschlesische Trachten anzuziehen, sondern erwarb auch nach und nach aus eigenen Mitteln Kleidungsstücke, die er nun jedes Jahr Teilnehmenden zur Verfügung stellt.

Text: Dawid Smolorz
Bilder: Adventum – konkretnie o podróżach