Bericht zur Diskussionsrunde „Quo vadis Europa“ im Haus Oberschlesien

Bericht von Florian Paprotny zur Diskussionsrunde „Quo vadis Europa“ am 09.06.2022 im Haus Oberschlesien in Ratingen Hösel

Mit Prof. David Engels, Dr. Gerhard Papke, Julia Eichhofer und Boris Kálnoky.

Die Stiftung Haus Oberschlesien hatte am 09.06.2022 in Kooperation mit dem Kulturreferat für Oberschlesien zu ihren „Höseler Gesprächen“ vier ausgewiesene Experten geladen: Prof. David Engels, der sich als Althistoriker unter anderem damit befasst, welche Lehren wir aus der Antike für Gegenwartsfragen ziehen können, Dr. Gerhard Papke, Präsident der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft, ehemals Vorsitzender der FDP-NRW-Landtagsfraktion und von 2012 bis 2017 Vizepräsident des Landtages von NRW und die ukrainische Politologin Julia Eichhofer, Programmdirektorin für Ukraine-Projekte des Zentrums Liberale Moderne. Moderiert wurde die Diskussionsrunde von Boris Kálnoky, der als Journalist unter anderem für die WELT und die Deutsche Welle gearbeitet hat und momentan Leiter der Medienschule am Mathias Corvinus Collegium in Budapest ist.

Von links: Dr. David Skrabania (Moderation), Boris Kálnoky, Dr. Gerhard Papke. Foto. Leonard Wons.

Vor Beginn der eigentlichen Diskussionsrunde fand eine kurze kleinere Runde statt, in der sich Kulturreferent Dr. David Skrabania mit Dr. Gerhard Papke und Boris Kálnoky über die politische Situation in Ungarn unterhielt. Skrabania eröffnete das Gespräch mit der provokanten Frage, ob Ungarn eigentlich zu Europa gehöre, zumindest in den deutschen Medien habe man oft das Gefühl, dass dies nicht der Fall sei. Kálnoky erwiderte, dass Ungarn selbstverständlich zu Europa gehöre und es das Verhältnis zur EU sei, dass immer Schlagzeilen produziere. In Ungarn gebe es, wie in vielen anderen Ländern, eine gespaltene Gesellschaft zwischen Stadt und Land, wobei die Städte im Gegensatz zum Land eher liberal seien. Vor allem auf dem Land gewinne Viktor Orban seine Wahlen. Orban mache keine klassische konservative Politik und habe es außerdem geschafft, den Linken den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er sich um die kleinen Leute kümmert und der Staat bei Bedarf auch mit massiven Interventionen reagiert, zum Beispiel im Falle der Preisdeckelung für Benzin. Skrabania warf ein, dass das der aktuellen polnischen Politik sehr ähnlich sei. Er fragte Papke, wie er die Debatte über Ungarn in Deutschland wahrnehme und ob diese fair geführt sei. Papke antwortete, dass die Diskussion alles andere als fair sei. Wie schon in Skrabanias Eingangsbemerkung deutlich wurde, spreche man allen Ernstes in Deutschland einem Volk aus der Mitte Europas teilweise die Zugehörigkeit zu Europa ab. Dabei zeigten alle Umfragen, dass die Ungarn glühende Proeuropäer seien. Es werde systematisch ein falsches Bild von Ungarn gezeichnet. In Bezug auf die Sanktionspolitik der EU gegenüber Russland waren sich Papke und Kálnoky einig, dass ein Öl- und Gasembargo gegen Russland für Ungarn wirtschaftlicher Selbstmord wäre, da es sich um ein Binnenland ohne andere Lieferoptionen handele. In Brüssel hätte man das beim Entwickeln einer gemeinsamen Haltung beachten müssen und nicht einfach die Ungarn vor gemachte Tatsachen stellen sollen. Abschließend ging es noch um die Frage der Pressefreiheit in Ungarn: Papke und Kálnoky hielten fest, dass es sehr wohl eine freie Presse in Ungarn gebe und dass der der Orban-Regierung vorgeworfene Presseumbau so nicht zutreffe und auch die historischen Tatsachen verkenne. Nach der Wende ging die ungarische Presse in private Hand über, aber die sozialistischen Journalisten blieben in den Redaktionen. Etwa 90 Prozent der ungarischen Presse war also links eingestellt. Nachdem Orban 2002 durch dieses Ungleichgewicht die Wahl verlor, wurde mit Hilfe von privaten Investoren die Medienlandschaft rekalibriert, sodass jetzt das Kräfteverhältnis etwa 50 zu 50 stehe. Papke nannte als Beispiel den reichweitenstärksten Fernsehkanal RTL Klub und die auflagenstärkste Tageszeitung Népszava, die beide regierungskritisch seien.

Sebastian Wladarz.

Der Vorsitzende der Stiftung Haus Oberschlesien Sebastian Wladarz eröffnete den unter dem Motto „Quo vadis Europa?“ stehenden Abend dann offiziell mit einem Zitat Benedikt XVI. vom Europatag der Oberschlesier 2012: „Das diesjährige Leitwort des Treffens lautet, Erbe erhalten Europa gestalten‘. Zum geistigen Reichtum Europas gehört wesentlich der Schatz des christlichen Glaubens, den der Kontinent empfangen hat und der sein soziales Leben begründet und seine Spuren in den Künsten, in der Literatur, im Denken und in der Kultur hinterlassen hat. Möge die Besinnung auf dieses Erbe sowie die geistige und kulturelle Verbundenheit von Menschen, auch wenn sie heute verschiedenen Ländern angehören, das Zusammenleben aller Europäer festigen und die Erfahrung von Unterschieden zum Fundament echter europäischer Solidarität werden lassen.“ Als Überleitung warf er die Frage auf, warum die EU, die sich gerne als Wertegemeinschaft definiere, die Quelle ihrer Werte, das Christentum, nicht in der Präambel der europäischen Grundwerte festgehalten habe.

Von links: Julia Eichhofer, Boris Kálnoky, Dr. Gerhard Papke, Prof. Dr. David Engels. Foto. Leonard Wons.

Engels begann mit einem Impulsvortrag, in dem er zunächst eine Lanze für einen europäischen Patriotismus, für den er den Begriff „Hesperialismus“ geprägt hat, brach. Als deutsch- und französischsprachiger Belgier, der jetzt in Warschau lebt, sei ihm jede rein nationale Selbstidentifikation fremd. Seine einzige Liebe und Loyalität gelte der europäisch-abendländischen Kultur. Diese seine Heimat sieht er als bedroht an; schon vor dem Ukrainekrieg sei deutlich geworden, dass die europäischen Völker nur gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit wie Eurokrise, Massenmigration und Covidkrise bewältigen können. Leider sei jedoch Europa in zwei Lager gespalten: die EU-Föderalisten und die EU-Skeptiker. Beide würden gute Argumente für ihre Positionen vorbringen: Natürlich seien die schon genannten Krisen nur durch eine enge Kooperation auf europäischer Ebene zu lösen. Jedoch könne es nicht sein, das jahrhundertealte Nationalstaaten, die für die meisten Bürger nach wie vor der Hauptreferenzpunkt demokratischer (Legitimierung) und kultureller Identität sind, von künstlich geschaffenen supranationalen Strukturen überstimmt werden, die selbst in die privatesten Bereiche eingreifen. Es habe sich vor allem im Westen und in den westlichen Medien ein linksliberaler Konsens herausgebildet, der im Osten schlicht nicht konsensfähig sei. Mittlerweile habe sich der Konflikt der beiden Lager gefährlich zugespitzt. Als Lösung forderte Engels, das Prinzip der Subsidiarität wieder hochzuhalten und die Zusammenarbeit nur auf Bereiche zu beschränken, in denen sie tatsächlich notwendig ist, so zum Beispiel beim Schutz der Außengrenzen, dem politischen Auftreten in der Welt, bei Forschung, Infrastruktur und Verbrauchernormen. Außerdem gelte es, die Identifikation der Bürger mit Europa zu stärken, wobei der Rekurs auf universalistische Werte nicht ausreichend sei. Unter den Europäern sei zunehmend das Bewusstsein für das ihnen Gemeinsame geschwunden und damit auch für die „europäische Schicksalsgemeinschaft“. Es gelte jetzt, die spezifisch europäischen Werte zu stärken, die in der kulturellen Identität und gemeinsamen Geschichte der Europäer begründet liegen. Die Europäer müssten ihr geistiges, kulturelles und spirituelles Erbe pflegen, den dieser Zivilisation eigenen spezifischen Zugang zum Guten, Schönen und Wahren, zu Gott, Welt und Menschen.

Ausgehend davon fragte Boris Kálnoky Julia Eichhofer, ob auch die Ukraine zu dieser „europäischen Schicksalsgemeinschaft“ gehöre. Eichhofer bejahte das und wies darauf hin, dass sich gerade jetzt anhand des Ukrainekrieges zeige, dass die Ukraine im Geiste europäisch sei. Die Widerstandskraft gegen den russischen Aggressor habe alle überrascht, doch die Ukrainer wissen, wofür sie kämpfen: für ihre Werte, die sie auch von Russland abgrenzen. Die Ukraine gehöre nicht nur mental zu Europa, sie sei auch bereit, Teil der EU zu werden. Die Ukraine zeige, dass sie stark sei, dass sie die EU verteidigen könne, und genau das mache sie momentan. Putin spreche in den russischen Medien nicht von einem Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO – der russische Soldat erwarte NATO-Truppen als Feinde in der Ukraine. Kálnoky hielt fest, dass also der ukrainische Mensch ein Europäer ist, und hakte nach, ob der russische Mensch denn keiner sei. Eichhofer antwortete, dass der russische Mensch sehr wohl Europäer sei, aber erst mehr von Europa eingebunden werden müsse, um die westlichen Werte zu übernehmen. Man müsse darüber nachdenken, wie man das russische Volk demokratisieren könne. Dabei sei die Ukraine ein guter Partner für die EU, da die Ukrainer teilweise russischsprachig seien und eine erfolgreiche, souveräne, demokratische Ukraine ein attraktives Angebot an die liberalen Russen und auch Weißrussen darstelle. Kálnoky fragte, zu welchem Lager die Ukraine im Falle eines EU-Beitritts gehören würde: den EU-Föderalisten oder den Ländern, die den eigenen souveränen Nationalstaat mehr schätzen. Eichhofer verdeutlichte, dass der Ukraine gar keine andere Wahl bleibe, als sich zur EU hinzuwenden, da sie sonst von allen Seiten eingeschlossen wäre. Momentan gehe es um das Überleben der ukrainischen Kultur und der Ukrainer als Volk, und Überleben könne die Ukraine nur in der EU. Deshalb sei sie auch bereit, ein Stück Souveränität abzugeben. Kálnoky wendete sich an Papke und fragte, wie er zur möglichen EU-Mitgliedschaft der Ukraine stehe. Papke erwiderte, dass diese Frage aufgrund der Ausnahmesituation schwer zu diskutieren sei, es gäbe immerhin ein geordnetes Verfahren zur Aufnahme. Auch andere Beitrittskandidaten müssten erst dieses Verfahren durchlaufen, da die EU gelernt habe, dass sie sich selbst institutionell nicht überfordern darf. Er stellte aber klar, dass Russland diesen Krieg auf keinen Fall gewinnen dürfe. Die EU befinde sich momentan in einer Zerreißprobe, und er lehne den Begriff der EU-Skeptiker ab. Länder wie Ungarn und Polen hätten nur eine andere Vorstellung der EU. Das werde im Westen bewusst falsch dargestellt.

Dr. Gerhard Papke. Foto: Marton Szigeti.

Auf die Frage, wie der Krieg die EU verändern werde, antwortete Engels, dass er momentan pessimistisch sei, was die kurzfristige weitere Entwicklung der EU angeht. Auf der „Konferenz zur Zukunft Europas“ sei vor kurzem ein Papier ausgearbeitet worden, dass die volle linksliberale Agenda enthalte: Dort werde ein Europa des Zentralismus, Transhumanismus, Antihistorizismus und der LGBTQ-Bewegung skizziert. Von daher sei eine institutionelle Gesundung der EU im Sinne des Mottos der Veranstaltung „Erbe erhalten, Europa gestalten“ momentan eher naiv. Langfristig glaubt Engels jedoch, dass die vergangenen Krisen den Dissens in Europa verdeutlicht hätten und so vielleicht eine positive Entwicklung ermöglichen könnten: Jetzt auf einmal sprechen dieselben Kreise, von denen früher jeder Patriotismus verteufelt und das Vorhandensein kultureller Identitäten negiert wurde, auf  einmal in höchsten Tönen vom ukrainischen Patriotismus, der Opferbereitschaft der ukrainischen Soldaten, dem Kriegspräsidenten Selensky und der Verteidigung der ukrainischen Identität gegen Russland. Es sei offensichtlich, dass wenn jetzt dieser Patriotismus gut, deutscher und französischer Patriotismus aber böse sei, da ein Widerspruch besteht, der aufgelöst werden muss. Und das könne die intellektuelle und ideologische Debatte wieder in Bewegung bringen. Außerdem hofft Engels, dass die Ukraine den konservativen Flügel der EU stärken und so langfristig eine Kräfteverschiebung herbeiführen könnte. Kálnoky bemerkte, dass Kriege große Transformationsbeschleuniger seien, der Ukrainekrieg könnte also die Entwicklung in die eine oder andere Richtung vorantreiben. Er fragte Eichhofer, wie lange die Ukraine in Friedenszeiten in der EU wohl zufrieden wäre, wenn aus Brüssel beispielsweise ein Mangel an Gendervielfalt in Schulen in Kramatorsk kritisiert würde. Eichhofer unterstrich noch einmal die Notwendigkeit des EU-Beitritts zum Überleben der Ukraine und sah darin kein Problem, da es noch mehrere Jahre dauern würde, bis es so weit wäre, und die Ukraine sich bis dahin weiterentwickeln könnte. Es müsste in der Ukraine eine Debatte geführt werden, zu welchem der beiden Lager in der EU sie gehören will. Außerdem würde frischer Wind der EU guttun, da das alte Europa ein wenig müde geworden sei.

Foto: Marton Szigeti.

Zum Abschluss wurde nach einer Prognose für die ferne Zukunft gefragt: Wie sieht die EU 2050 aus? Engels malte zunächst ein düsteres Bild. Der wirtschaftliche Rückstand gegenüber China werde nicht mehr aufholbar sein, es werde ein gewaltiges demographisches Problem und eine Verschiebung der Bevölkerungen innerhalb Europas zwischen Autochthonen und Migranten geben, Länder wie Frankreich oder auch England, auch wenn es nicht mehr zur EU gehört, werden radikal ihr Gesicht verändern durch die neue kulturelle Gemengelage. Die wirtschaftliche Krise werde dann immer offenbarer, da wir momentan noch von der Infrastruktur zehren, die in den letzten 100 Jahren entstanden ist. Ferner gebe es schon jetzt einen gewaltigen Bildungsrückstand gegenüber Südostasien und die neue Generation, die in Europa leitende Funktionen übernehmen wird, sei dafür sehr schlecht vorbereitet. Es werde zu einer oppressiveren Politik kommen, mit Zensur, Medienkontrolle und der Kontrolle von akademischen Institutionen, um ein einheitliches Bild dessen, was gut und was schlecht ist, durchzusetzen. Traditionelle Strukturen werden erodieren, schon jetzt gebe es in Ländern Territorien, die von Parallelgesellschaften beherrscht werden und sich dem staatlichen Zugriff weitgehend entziehen, zum Beispiel die Banlieues in Frankreich. Dadurch entstehe ein enormes Gewaltpotential und ein Vertrauensverlust in den Staat. Seine Hoffnung setzt Engels in die Länder im Osten der EU, dort werde man aus den Fehlern der westlichen Staaten, unter denen sie zunehmend leiden, lernen. Vielleicht könnte dann aus Ost nach West gewirkt werden und damit die Werte, die den Osten stabil halten und zu solidarischen und kulturell fest verankerten Gesellschaften machen, zurück in den Westen getragen werden.

Papke schaut voller Optimismus in die Zukunft Europas, es gebe aber fundamentale Herausforderungen, die in den nächsten Jahren bewältigt werden müssen. Dazu sei es wichtig, dass sich Europa auf die von Engels zuvor benannte „europäische Kultur“ zurückbesinne. Europa habe eine christlich-jüdisch-abendländische Tradition, und die gelte es zu verteidigen. Wenn Europa einem beliebigen Multikulturalismus preisgegeben werde, werde es zerstört. Erst vor kurzem habe sich in Afghanistan gezeigt, dass selbst mit enormem Ressourcenaufwand eine vormoderne, islamistische Gesellschaft nicht in eine pluralistische Demokratie westlichen Musters umgewandelt werden kann. Die Massenzuwanderung befördere die Bildung von Parallelgesellschaften und gefährde die Identität Europas und sei außerdem einer der größten Konfliktpunkte zwischen den Staaten im Westen und im Osten der EU.  So etwas wie die französischen Banlieues gebe es in Ansätzen auch bereits in Deutschland. Als zweites großes Problem nannte Papke das immer stärkere Ansichziehen von Kompetenzen der Nationalstaaten durch die Institutionen der EU. Dieser europäische Zentralismus drohe, eine Gefahr für die Vielfalt in der EU zu werden. Die Vielfalt sei die große Stärke Europas, nicht der Zentralismus aus Brüssel.
Eichhofer sagte, dass momentan die Welt an einem Scheidepunkt stehe. Der Ukrainekrieg sei ein Kampf der Systeme, zwischen zwei Regierungssystemen, dem liberalen im Westen und dem autoritären wie in Russland oder China. Die liberale Demokratie sei gerade sehr stark in Gefahr, wie Europa 2050 aussehen wird, entscheide sich jetzt, in den kommenden Jahren. Wenn die EU erfolgreich sein will, müsse sie sich ausdehnen. Wenn das mit der Ukraine gelingt, werde das auch in Ländern wie Georgien oder Moldau bemerkt. Wenn die EU diese Zone demokratisiere, werde sie auch in 30 Jahren als erfolgreiches liberales Projekt dastehen. Migrationen bereichere ihrer Meinung nach die EU, und die Antwort auf den Dissens zwischen Ost und West sei ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

Text: Florian Paprotny