Das große Werk eines kleinen Verlages

Marcin Wawrzyńczak bringt dem polnischen Lesepublikum die deutsche Geschichte des Iser- und Riesengebirges nahe

Die Anthologie der Reiseberichte „Wanderer im Riesen-Gebirge” wird fortgesetzt.

Regional- und lokalgeschichtliche Publikationen erleben in Polen aktuell ihr goldenes Zeitalter. Noch nie wurde so viel über einzelne Dörfer, Städte, Orte oder Regionen geschrieben und publiziert wie heute. Autoren, die die Geschichte ihrer kleinen Heimat entdecken, aber auch renommierte Reporter oder Wissenschaftler, die in der Provinz nach neuen Themen suchen, haben im letzten Jahrzehnt viele interessante Werke hervorgebracht, auch in Schlesien und der schlesisch-lausitzischen Grenzregion. Über fast jede schlesische Stadt wurde eine Monographie veröffentlicht, und die Mikroregionen, insbesondere die touristisch attraktiveren, wurden sogar mehrfach beschrieben. Natürlich ist das inhaltliche, wissenschaftliche oder literarische Niveau dieser Publikationen sehr unterschiedlich.

Die sudetenbezogene Regionalliteratur wird nur von wenigen Verlagen bearbeitet. Erwähnenswert sind der Verlag ATUT aus Wrocław (Breslau) und der Verlag AD REM aus Jelenia Góra (Hirschberg), die über Hunderte von wichtigen Titeln verfügen. Umso erfreulicher ist es, wenn ein neuer Akteur auf dem Verlagsmarkt erscheint, vor allem, wenn er ein originelles Angebot und ein interessantes Profil hat.

Wie so oft begann alles ganz unauffällig. Vor einem Jahrzehnt kam ein gebürtiger Warschauer nach Chromiec (Ludwigsdorf), einem kleinen Dorf im Isergebirge. Als origineller und freier Geist tauchte er schnell in die Region ein und erkundete das Gebirge auf jede erdenkliche Weise: Er fotografierte, durchsuchte Archive, diskutierte in den sozialen Medien, hinterfragte, zweifelte und versuchte zu erklären. Als professioneller Übersetzer aus dem Englischen, der seinen Lebensunterhalt mit dem geschriebenen Wort verdient, schrieb einen Blog oder richtete Facebook-Profile zu Themen ein, die ihn beschäftigten.

Die erste Publikation von Marcin Wawrzyńczak und seinem Verlag Wielka Izera.
Michelsbaude: Buchvorstellung mit Marcin Wawrzyńczak (rechts) und Grzegorz Żak beim Schlesischen Nachtlesen am 6.04.2019 in Zgorzelec, Fot. A. Kucharski.

Vor einigen Jahren entdeckte Marcin Wawrzyńczak (alias Mars Wawrzyn in den sozialen Medien) mitten im schlesischen Teil des Isergebirges ein Gasthaus, das seit über 100 Jahren nicht mehr existierte. Die Vergangenheit der Michelsbaude hat ihn völlig in ihren Bann gezogen. So sehr, dass er versuchte, sie literarisch zu rekonstruieren. Er hat viel Zeit damit verbracht, in der Erde, den Archiven und Bibliotheken Spuren der Michelsbaude zu finden. Das Gefundene hat er Ende 2018 in eine Publikation mit dem Titel „Michelsbaude. Die Geschichte der verschwundenen Waldherberge im Isergebirge” verwandelt. Sie hatte keine Chance, von einem „richtigen”, kommerziell ausgerichteten Verlag veröffentlicht zu werden. Deshalb gründete Wawrzyńczak seinen eigenen Verlag. Er benannte ihn nach der nicht mehr exisiterenden Kolonie Groß Iser im Herzen des Gebirges. Nach der Veröffentlichung von “Michelsbaude” kamen neue Erkenntnisse und Funde dazu, die zu der Neuauflage unter dem Titel „Michelsbaude 2: Eine Isergebirgslegende” führten.

Wawrzyńczaks Leidenschaft hinterläßt auch Spuren in der Landschaft. Im September 2019 wurde am identifizierten Standort der Michelsbaude eine Gedenktafel in Polnisch, Deutsch und Tschechisch eingeweiht (SILESIA News berichtete). Es war der krönende Abschluss seiner Bemühungen, diesen Ort dem Reich des Vergessens zu entreißen.

Nachdem das Projekt Michelsbaude (zumindest vorübergehend) abgeschlossen wurde, setzte Wawrzyńczak den Schwerpunkt seines Interesses auf die alten Reiseberichte, in denen er nach Hinweisen für die verschwundene Baude recherchierte. In dieser Zeit hat er bereits umfangreiche Textpassagen ins Polnische übersetzt und online publiziert. Darauf ist die Kulturreferentin für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz aufmerksam geworden und hat eine deutsch-polnische Anthologie der Reiseberichte als gemeinsame Veröffentlichung des Schlesischen Museums und des Verlags Wielka Izera initiiert. Das Projekt „Wanderer im Riesen-Gebirge (Podróżnicy w Górach Olbrzymich)” wurde 2020 gemeinsam umgesetzt (SILESIA News berichtete). Für Anfang 2022 wird eine Fortsetzung der Anthologie geplant.

„Wanderer im Riesen-Gebirge” erfreuen sich großer Beliebtheit bei den Lesern, Bergliebhabern und Regionalisten. Dieses Jahr wurde die Publikation im Rahmen zweier wichtigen Literaturfestivals vorgestellt: Im Juni in Görlitz-Zgorzelec bei den deutsch-polnischen Literaturtagen bei der Neiße und im Juli bei dem Festival Literaturberge (Festiwal Góry Literatury) in Nowa Ruda (Neurode) und Umgebung. Am 10. Oktober 2021 sind Agnieszka Bormann und Marcin Wawrzyńczak mit dieser Publikation Gäste im Kulturzug Berlin-Breslau in der Reihe “Gespräche in Fahrt”. Mit Ewa Wille sprechen sie im Kulturzug von Breslau nach Berlin zum Thema: „Regionen. Landschaften schreiben Geschichten”.

In der Zwischenzeit erschienen im Verlag Wielka Izera weitere Bücher, entweder Nachdrucke von alten Werken, bei denen das Urheberrecht bereits abgelaufen, oder polnische Übersetzungen deutscher Autoren wie Heinrich Rohkam (Bauden und Baudenleute, Breslau Priebatsch’s Buchh. 1937), Adolf Traugott von Gersdorf (Reisejournale aus dem Iser- und Riesengebirge, 1765-1799), Cosmus Flam (Die Salzstörche. Eine Erzählung aus der Friderizianischen Zeit. Bergstadtverlag, Breslau 1934; auch mit dem Untertitel Eine Schmugglergeschichte aus dem Isergebirge, 1959) oder David Friedrich Schulze (Reise von Thüringen durch Sachsen, die sächsische Schweiz und die Oberlausitz, über den Oybin und Meffersdorf in das schlesische Riesengebirge, Leipzig 1804).

Wawrzyńczaks Veröffentlichungen geben dem polnischen Leser erstmalig die Möglichkeit, die ursprünglich in deutscher Sprache kodirte Landschaft, seine Geschichte und literarische Bezüge, kennenzulernen. So gesehen schlägt Marcin Wawrzyńczak mit seinen Übersetzungen eine Brücke zwischen der deutschen Vergangenheit und der polnischen Gegenwart der Landschaft.

Wawrzyńczak geht davon aus, dass er in den nächsten Jahren mit seinem jungen Verlag gut zu tun haben wird. Es gibt viele vergessene Manuskripte in den Regalen von Archiven und viele den Polen unbekannte Bücher in den Bibliotheken. Unabhängig davon, in welche Richtung Mars Wawrzyn seine Verlagsaktivitäten lenkt, verdient allein die Tatsache seiner Existenz Anerkennung und Unterstützung. Diese Aktivität ist Teil eines verbreiteten Trends des Kennenlernens der Vergangenheit und des Respekts vor den Generationen, die Jahrhunderte lang die Kultur in Schlesien, insbesondere im Iser- und Riesengebirge sowie in der schlesisch-böhmischen und schlesisch-lausitzischen Grenzregion, gestalteten.

Text: Arkadusz Lipin und Agnieszka Bormann

Verschwundene Welten im Isergebirge: Wanderung mit Marcin Wawrzyńczak und einer Gruppe aus Görlitz im Isergebirge im Juli 2020 – auf den Spuren der alten Wanderer. Fot. A. Lange.