„Konkurrierende Grenzräume im historischen Vergleich. Die Rheinprovinz und die Provinz Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg“ am 2.-3. Juni im OSLM in Ratingen
Interview mit dem Organisator Dr. Frank Mäuer.
Am 2.-3. Juni 2023 findet im Oberschlesischen Landesmuseum (OSLM) die Tagung „Konkurrierende Grenzräume im historischen Vergleich. Die Rheinprovinz und die Provinz Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg“ statt. Der Organisator und wissenschaftliche Mitarbeiter des Oberschlesischen Landesmuseums, Dr. Frank Mäuer, wurde vom wissenschaftlichen Volontär des Museums, Marius Hirschfeld, zu einem Gespräch gebeten.
Marius Hirschfeld: Die Anfangsjahre der Weimarer Republik waren geprägt von schweren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen, die im allgemeinen historischen Bewusstsein im Jahr 1923 kulminierten. An Rhein und Ruhr marschierten französische und belgische Truppen auf, um die deutschen Versäumnisse bei den Reparationszahlungen einzutreiben. Infolgedessen drohte die ohnehin angeschlagene deutsche Wirtschaft vollends zu kollabieren. Währenddessen standen die Menschen in Oberschlesien noch unter dem Eindruck der gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Zugehörigkeit der Region und unter der gerade erst erfolgten Teilung der Region. Die Tagung „Konkurrierende Grenzräume im historischen Vergleich. Die Rheinprovinz und die Provinz Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg“ nimmt die beiden historischen Regionen des Rheinlandes und Oberschlesiens vergleichend in den Blick. Herr Dr. Mäuer, warum liegt ein Vergleich dieser beiden Regionen vor diesem Hintergrund nahe?
Dr. Frank Mäuer: Zunächst einmal fällt auf, dass in beiden Regionen nach dem Ersten Weltkrieg eigentlich „keine Ruhe einkehrte“. In Oberschlesien bewegte die Frage der künftigen staatlichen Zugehörigkeit die Gemüter, im Westen die Besetzung der linksrheinischen Gebiete und einiger rechtsrheinischer Brückenköpfe. Der Grad der politischen Mobilisierung der Bevölkerung blieb durchgehend hoch. Nicht selten schlug die politische Auseinandersetzung auch in Gewalt um. Als spezifische Grenzräume ergaben sich für das Rheinland und Oberschlesien aus dem verlorenen Weltkrieg besondere Herausforderungen, die sie von anderen Regionen im Deutschen Reich unterschieden. Sagen wir von Hannover oder Bayern. Diese gemeinsamen Herausforderungen wollen wir zur Grundlage des Vergleichs auf unserer Konferenz machen.
MH: Und welche Herausforderungen sind das, welche Aspekte und Kategorien (Parameter) sollen für den Vergleich herangezogen werden?
FM: Insgesamt haben wir fünf Vergleichsparameter ausgemacht. Als erstes wäre die Zugehörigkeit zum Gesamtstaat zu nennen. Sowohl für Oberschlesien als auch für das Rheinland wurde nach dem Ersten Weltkrieg die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich jedenfalls zeitweise in Frage gestellt. Besonders deutlich wurde die Einschränkung der staatlichen Souveränität natürlich durch die Anwesenheit ausländischer Besatzungs- bzw. Sicherungstruppen. Auf politischer Ebene gingen wichtige legislative und exekutive Kompetenzen auf alliierte Besatzungskommissionen über: im Westen auf die Interalliierte Rheinlandkommission unter Vorsitz des französischen Hohen Kommissars Paul Tirard, in Oberschlesien auf die Interalliierte Regierungs- und Plebiszit-Kommission für Oberschlesien unter Führung von General Henri Le Rond. Analog bildeten sich auf deutscher Seite verschiedene Staats- und Reichskommissariate zur Wahrnehmung der deutschen Interessen. Daneben gab es in beiden Regionen auch autonomistische bzw. separatistische Bewegungen von unterschiedlicher Stärke. Den zweiten Aspekt habe ich vorhin bereits angesprochen: die Gewalt(erfahrung).
MH: Weil es in beiden Regionen zeitweise zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteuren kam.
FM: Richtig. Für die heimische Bevölkerung war die Gewalterfahrung auch Jahre nach Kriegsende noch nicht vorbei. Im Gegenteil kam sie ihnen teilweise räumlich so nahe wie in den vier Jahren des Großen Krieges nicht. In Oberschlesien lieferten sich polnische Aufständische und deutsche Freikorps und „Selbstschutzeinheiten“ blutige Kämpfe in den drei Aufständen der Jahre 1919, 1920 und 1921. Im Westen folgten auf den ebenfalls blutig ausgefochtenen Kampf zwischen der „Roten Ruhrarmee“ und Reichswehr- bzw. Freikorpseinheiten im Jahr 1920 die alliierte Besetzung der rechtsrheinischen Brückenköpfe Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort im Jahr 1921. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Verbände und der anschließend von der Reichsregierung ausgerufene Ruhrkampf markierten hier 1923 schließlich den Höhepunkt des bewaffneten Konflikts.
MH: Auch die politische Auseinandersetzung wurde mit großer Härte geführt und blieb in ihrer Wirkung nicht auf Oberschlesien oder die Rheinprovinz beschränkt.
FM: Genauso ist es. Und damit wäre die dritte Vergleichsebene angesprochen. In beiden Regionen wurden die jeweiligen Konflikte von einem politischen Meinungskampf auf allen Ebenen flankiert: von der publizistischen Berichterstattung, über eine Vielzahl an Flugblättern, Druckschriften und Plakaten bis hin zu politischen Kundgebungen und groß inszenierten öffentlichen Fest- und Gedenkveranstaltungen. Diese Propagandaschlachten hatten eine weit über die Regionen hinausgehende, reichsweite und anhaltende politische Mobilisierung weiter Teile der Bevölkerung zur Folge. Sie hatten in ihrer permanenten Wiederholung von nationalen Stereotypen und Erzählungen nachhaltige Auswirkungen auf die politische Kultur. Auch hiermit wird an eine im Ersten Weltkrieg begonnene Entwicklungslinie angeknüpft.
MH: Wie stellte sich die im Titel erwähnte Konkurrenz der beiden preußischen Provinzen dar?
FM: Hier bin ich auf die Konferenzergebnisse besonders gespannt. Diese vierte Vergleichsebene ist in gewisser als offene Frage zu verstehen. Denn natürlich fehlt nicht an wechselseitigen Solidaritätsbekundungen zwischen Oberschlesien und der Rheinprovinz – zumal die dramatischen Ereignisspitzen hier zeitlich versetzt lagen. Dennoch: Obschon oder gerade weil sich Oberschlesien und die Rheinprovinz nach dem Ersten Weltkrieg mit vergleichbaren Herausforderungen konfrontiert sahen, standen die Regionen in gewisser Weise auch in Konkurrenz zueinander: Konkurrenz um politische und militärische Unterstützung, um wirtschaftliche Hilfe sowie generell um öffentliche Aufmerksamkeit.
MH: Sie sprechen die wirtschaftliche Lage an. War die nicht im gesamten Deutschen Reich schlecht?
FM: Doch. Aber in unseren beiden Grenzräumen waren die Nachkriegsjahre von wirtschaftlichen Umbrüchen und Verwerfungen begleitet, die weit über die Kriegsfolgen hinausgingen, die das Deutsche Reich insgesamt zu tragen hatte. In Oberschlesien wurde mit der Teilung der Region auch das über Jahrhunderte gewachsene Oberschlesische Industrierevier zerrissen. Dies hatte tiefgreifende Konsequenzen für die Organisationen der einzelnen Industriekonzerne sowie für die Produktivität der Region insgesamt. Im Westen geriet die Industrie an Rhein und Ruhr zum alliierten Faustpfand im Konflikt über die deutschen Reparationsleistungen. Die Ruhrbesetzung und die deutsche Politik des passiven Widerstands führten in Deutschland schließlich zu Versorgungsengpässen, Hyperinflation und Mangelernährung in weiten Teilen der Bevölkerung. Die wirtschaftliche Ebene ist somit unser fünfter Vergleichsparameter.
MH: Welchen Erkenntnisgewinn versprechen Sie sich von der Konferenz?
FM: Grundsätzlich sollen durch die vergleichende Betrachtung Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung beiden preußischen Provinzen nach dem Ersten Weltkrieg deutlicher hervortreten. Wir bringen Referenten zusammen, die jeweils absolute Experten für ihre Region sind und bieten ihnen ein Forum für den wissenschaftlichen Austausch im regionenübergreifenden Rahmen. Durch den vergleichenden regionalhistorischen Blick steht zu hoffen, dass neue wechselseitige Perspektiven für die Forschenden auf das jeweils eigene Forschungsfeld eröffnet werden und auch überregional neue Gesichtspunkte für die Geschichte des Gesamtstaates im Zusammenhang mit der Chiffre „1923“ offengelegt werden. Nicht zuletzt sind die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Oberschlesien zwischen 1919 und 1921 und die Teilung 1922 sowie der ab 1923 beginnende „Ruhrkampf“ auch im Kontext eines über 1918 hinaus fortdauernden europäischen Konfliktes zu sehen. Den Blick auf diesen Aspekt erneut zu schärfen, ist auch ein Ziel dieser Tagung.
„Konkurrierende Grenzräume im historischen Vergleich. Die Rheinprovinz und die Provinz Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg“ ist eine Kooperation mit dem Jülicher Geschichtsverein 1923 e. V. und dem Opladener Geschichtsverein von 1979 e. V. Leverkusen. Mitveranstalter ist die Landeszentrale für politische Bildung NRW.
Ein detailliertes Programm finden Sie hier.
Tagungsort und Kontakt
Haus Oberschlesien, Bahnhofstraße 71, 40883 Ratingen-Hösel
Die Tagung findet öffentlich statt, interessierte Besucherinnen und Besucher sind herzlich eingeladen. Um Anmeldung unter anmeldung@oslm.de wird gebeten.
Für weitere Fragen steht Ihnen am Oberschlesischen Landesmuseum Herr Dr. Frank Mäuer (maeuer@oslm.de) zur Verfügung.
Ausblick
Die Ratinger Konferenz soll im Herbst 2023 im „Museum der Schlesischen Aufstände“ in Świętochłowice (Schwientochlowitz) ihre Fortsetzung erhalten. Dort wird die vergleichende Betrachtung der preußischen Provinz Oberschlesien und der autonomen schlesischen Woiwodschaft als „konkurrierende Grenzräume“ im Mittelpunkt stehen.
Text & Bilder: Stiftung Haus Oberschlesien / Oberschlesisches Landesmuseum