Vor 100 Jahren wurde das östliche Oberschlesien polnisch 

Willkommenstore und Tränen

Fünfzehn Monate nach der Volksabstimmung wurde die Teilung Oberschlesiens Tatsache.

Zwischen Mitte Juni und Mitte Juli 1922 übernahmen die deutsche und die polnische Verwaltung in fünf Etappen die ihnen zugesprochenen Teile des strittigen Gebiets. Das deutsche Militär und die deutschen Beamten kehrten nach zweieinhalb Jahren zurück. Zwar sprach man auch auf polnischer Seite von einer Rückkehr – um präzise zu sein, von einer Rückkehr nach 600 Jahren – doch in Wirklichkeit wurden die Einwohner des östlichen Oberschlesien in vieler Hinsicht mit einer gänzlich neuen Situation konfrontiert. Für große Teile der Bevölkerung stellte der Einzug der polnischen Verwaltung die erste Begegnung mit einer anderen Mentalität, einem anderen Staat mit seiner spezifischen Tradition und auch mit einer anderen Sprache dar. Denn selbst für viele slawischsprachige Oberschlesier war das Hochpolnische, das fortan als Amtssprache fungierte, gefühlt eine Fremdsprache, die in der Region bis dahin so gut wie nicht gesprochen wurde.

Replik des Willkommenstores von 1922 in Pless. Foto. D. Smolorz.

Der polnisch gewordene Teil Oberschlesiens hatte fast eine Million Einwohner und eine Fläche von 3.214 km². Er umfasste die Landkreise Kattowitz/Katowice und Pless/Pszczyna, jeweils den größeren Teil der Kreise Lublinitz/Lubliniec, Rybnik/Rybnik und Tarnowitz/Tarnowskie Góry, Teile der Landkreise Ratibor/Racibórz und Tost-Gleiwitz/Toszek-Gliwice, den südlichen und den östlichen Teil des Kreises Hindenburg/Zabrze sowie die kreisfreien Städte Kattowitz/Katowice und Königshütte/Chorzów.

Der 1922 an Polen angeschlossene (hellblau) und der deutsch verbliebene Teil Oberschlesiens (dunkelblau).

Noch bevor die Grenzsteine eingegraben wurden, hatten die ersten Übersiedler ihre bisherigen Wohnorte verlassen. Insgesamt machten mehr als 200.000 Menschen von dem Recht der Option Gebrauch, das ihnen mit dem im Mai 1922 zwischen Berlin und Warschau abgeschlossenen Abkommen eingeräumt worden war, und zogen in den deutsch gebliebenen oder den polnisch gewordenen Teil der Region. Nicht selten handelte es sich bei diesen Auswanderungen lediglich um einen Umzug in eine Nachbarstadt, die aus der Sicht des Betroffenen auf der richtigen Seite der Grenze lag. Im Juni und Juli 1922 wurden in der ganzen Region Willkommenstore aufgestellt: Im westlichen Teil für die deutschen Truppen, im östlichen für das polnische Militär. Da jedoch die neue Grenze nur partiell den in der Volksabstimmung ausgedrückten Präferenzen entsprach, mischten sich in vielen Städten Freude und Trauer. 

Willkommenstor in Rybnik, das am 4. Juli 1922 von der polnischen Verwaltung übernommen wurde. Quelle: Nationales Digitalarchiv (Narodowe Archiwum Cyfrowe), Warschau.

Zusammen mit dem 1920 Polen zugesprochenen Teil des Teschener Schlesien bildete das Gebiet in der Zwischenkriegszeit die Wojewodschaft Schlesien – den kleinsten und zugleich den reichsten Verwaltungsbezirk des Landes. Als einzige der polnischen Wojewodschaften hatte er einen autonomen Status und verfügte somit über weitreichende Kompetenzen u. a. in solchen Bereichen wie Schulwesen, Polizei, Landwirtschafts-, Bau- und zum Teil Steuerpolitik. Die Wojewodschaft Schlesien hatte zudem ihr eigenes Finanzwesen und ein Regionalparlament, den Schlesischen Sejm (mehr dazu können Sie hier lesen: https://www.silesia-news.de/2020/07/23/100-jahre-autonomie-der-woiwodschaft-schlesien/). Seit der Ernennung Michał Grażyńskis von der Sanacja-Gruppierung zum Wojewoden von Schlesien 1926 war die regionale Verwaltung zunehmend bestrebt, die Einflüsse der deutschen Minderheit einzuschränken und den Teil der Bevölkerung, der slawischsprachig, aber gleichzeitig deutsch gesinnt war, „zum Polentum zu bekehren“.

Begrüßung der polnischen Truppen in Kattowitz am 20. Juni 1922. Quelle: Wikimedia Commons.

Derzeit arbeitet das Oberschlesische Landesmuseum Ratingen an einer Ausstellung über das geteilte Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit. Ihre Eröffnung wird am 13. November 2022 stattfinden.

Text: David Skrabania